Ideologien brauchen Ideologiekritik. Sonst unterliegen wir ihrer Verführungsmacht.

40 Minuten freie Rede, ohne power point-Charts samt halblustiger Gliederungssymbole, schlüssige Ausführungen mit humorigen Momenten, fundierte Diskussion, aufmerksames Publikum, aus dessen Mitte kluge Fragen und sachliche Beiträge kommen. So lässt es sich selbst am Abend eines Arbeitstages konzentriert und ohne müdigkeitsbedingte Ausfallserscheinungen zuhören und mitdenken, wenn über das sperrig klingende Thema ‚Interventionen: Philosophie als Ideologiekritik‘ gesprochen wird.

Zu verdanken ist der Hör- und Denkgenuss

  • einer kundigen Moderatorin – Katharina Lacina, Philosophin, Universität Wien
  • einem profunden Redner – Markus Gabriel, Erkenntnistheoretiker, Universität Bonn
  • einem gebildeten Journalisten – Michael Fleischhacker, Chefredakteur von nzz.at

allesamt, wie es sich für PhilosophInnen geziemt, auf der Suche nach Verständnis und Erkenntniszugewinn. Der Vortrag fand am 27. Jänner 2016 im Rahmen eines Clubabends von nzz.at statt und ist Teil der Gesprächsreihe ‚Figuren des Intellektuellen – Philosophieren im Lichte der Öffentlichkeit‘, die die Universität Wien gemeinsam mit nzz.at ausrichtet.

Interventionen: Philosophie als Ideologiekritik

Sperrig sollen sie sein, lernen wir an diesem Abend unter anderem, die Sätze der PhilosophInnen. So, dass man gedanklich darüber stolpert und zum Nachdenken gezwungen wird. Es müsse verhindert werden, dass falsche Klarheit aufkommt.

Zum Nachdenken wird stattlich gereicht. Markus Gabriel führt in sein Verständnis davon ein, was Philosophie ist und können muss. Er hält es mit Immanuel Kant und dessen Idee des Weltbegriffes der Philosophie, die auf die Aufdeckung der Verhältnisse abzielt. Dem Schulbegriff der Philosophie geht es um Beantwortung von Fragen wie ‚Haben wir einen freien Willen?‘, ‚Was ist der Mensch?‘. Der Weltbegriff hat den Inhalt, der Schulbegriff die Überprüfung im Programm.

Um den Dichter herum wird alles zur Dichtung

Was ist Ideologie? Der Begriff – von Karl Marx – findet seine Vorgeschichte bei Kant. Dieser spricht erstmals von Weltanschauung und meint damit, sich eine Idee vom Ganzen, eine Idee von der Welt zu machen. Daraus kam das Weltbild, das in der Weimarer Republik politisch wurde. Gabriel gibt zu Bedenken, dass, sobald man versuche, seine Weltanschauung im Kantschen Sinne zu beschreiben, man bei Ideologie lande, Nietzsche zitierend: ‚Um den Dichter herum wird alles zur Dichtung.‘ Denn jedes Bild, das man sich von der Welt macht, sage mehr über einen selbst aus, als über die Welt. Warum? Weil die Ideen niemals empirisch gedeckt sind. Idee steckt in Ideologie. Zur Ideologie wird etwas sozial Kontingentes, das dargestellt wird, als sei es natürlich. Und hier braucht es Ideologiekritik.

Zuerst einmal, was heißt Kritik? Kritik geht auf griechisch ‚krinein‘ zurück. Das heißt ‚unterscheiden‘. Wer Ideologiekritik betreibt, achtet auf die Unterschiede, was einen starken theoretischen Unterbau brauche, ansonsten drohe die Gefahr, dass Ideologiekritik zur Ideologie wird.

Heilige Orte für grundsätzliche Entscheidungen

Gabriel legt dar, dass jede gegebene Anordnung von Elementen in einem Gegenstandsbereich nur dann als notwendig gilt, wenn zuvor grundsätzliche Entscheidungen getroffen wurden. Diese Entscheidungen können ausgesprochen, sichtbar, nachvollziehbar sein. Oder nicht. Oft sind sie es nicht. Oft werden sie im Verborgenen gefällt (wie es Martin Heidegger befürwortete) und als alternativlos dargestellt. Gabriel spricht in dem Zusammenhang von der Schaffung heiliger Orte, an denen die grundsätzlichen Entscheidungen getroffen werden. Ideologiekritik macht diese Entscheidungen sichtbar. Was zur Ahndung des Kritikers durch das ideologische System führt.

Die derzeitige Öffentlichkeit tendiere zur Fragmentierung. Darin liege die Gefahr, dass verborgene Entscheidungen sich mehren. Investigativer Journalismus könne die Rolle des Ideologiekritikers übernehmen, der die Karten auf den Tisch legt. Öffentlichkeit ermögliche die Teilhabe vieler und die Änderung der Spielregeln. Finde all dies nicht statt, so nähmen die an den geheimen Orten getroffenen Entscheidungen die Form einer Gewalt an, deren Quelle man nicht kennt.

Und noch etwas: Ideologie verführt. Denn sie entlastet. Die Entscheidungen sind ja schon gefällt.

Links

nzz.at

Universität Wien

Universität Bonn

Immanuel Kant – Wikipedia

Karl Marx – Wikipedia

Friedrich Nietzsche – Wikipedia

Martin Heidegger – Wikipedia

Über Journalismus auf 1-sicht

Medien: Spiegel der Gesellschaft mit Fähigkeit zur Selbstkritik

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