Europas nationalstaatliche Grenzen – Normalität und Notwendigkeit oder historischer Sonderfall?

Die nach dem 2. Weltkrieg geborenen und aufgewachsenen Menschen kennen Europa nicht anders, als mit innerstaatlichen Grenzen, ja sogar eisernen Vorhängen und Mauern. Als Letztere fielen, wurde gejubelt. Als die ‚Schengener Abkommen‘ 1985 und 1990 unterzeichnet wurden, erlangte man freien Personenverkehr und Abbau der Grenzkontrollen, was den meisten BürgerInnen wohl insbesondere auf Urlaubsreisen positiv auffällt, aber nicht von besonderer Alltagsbedeutung ist.

Die Schengener Abkommen stehen für:

  • die Abschaffung von Personenkontrollen an den Grenzen zwischen den Ländern des Schengenraumes
  • gemeinsame Regeln für die Kontrollen an den Außengrenzen
  • eine gemeinsame Visa-Politik
  • eine verstärkte Zusammenarbeit von Polizei und Justiz, die den Wegfall der Grenzkontrollen erst möglich machte.

Eine Schutzklausel erlaubt allen Schengen-Ländern, im Falle einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit die Kontrollen vorübergehend wieder einzuführen.
(Quelle: Zukunft Europa/Bundeskanzleramt)

Diese Schutzklausel dürfte aktuell Hochkonjunktur haben. Die aus Kriegsgebieten flüchtenden Menschen werden, so scheint es, als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit wahrgenommen. Die (vorübergehende) Aufhebung der Schengenabkommen ist in Diskussion.

Europa ohne Grenzen

Für uns Nachkriegsgenerationen, die wir mit Grenzen und Grenzkontrollen aufgewachsen sind, für die der erste eigene Pass ein Schritt ins Erwachsenenleben bedeutete, ist ein dank Schengen in weiten Teilen ‚grenzenloses Europa‘ die angenehme Ausnahme, nicht die anzustrebende Normalität. Darauf weisen Ulrike Guèrot und Robert Menasse in dem Artikel ‚Lust auf eine gemeinsame Welt‘ in Le Monde diplomatique vom Februar 2016 hin. Sie halten dem derzeit deutlich vernehmbaren Ruf nach Einführung von innereuropäischen Grenzkontrollen und Grenzbefestigungen inklusive Schießbefehlen das grenzenlose Europa vor den beiden Weltkriegen als Denk- und Diskussionsmodell, als Vision entgegen. Sie erinnern daran, dass das System der politischen Grenzen die historische Ausnahme ist. Unter Berufung auf Stefan Zweig schreiben sie, dass man vor 1914 kein Visum brauchte, „um mit der Droschke von Paris nach Moskau zu reisen und in Berlin die Pferde zu wechseln“. Die 4 Freiheiten der Europäischen Union (Personenfreizügigkeit, Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen und Kapital) sind zwar die größte Errungenschaft nach den Kriegen, stellen aber kein Novum in der europäischen Geschichte dar sondern, so Guèrot und Menasse, die Wiederherstellung historischer Normalität. Sie fordern „globales Nomadentum nicht nur für Konzerne“ und vermissen im europäischen Diskurs die Ambition, Europa wieder zu europäisieren, sprich, die Nationalstaaten zu überwinden.

Wie alt sind unsere Pässe?

Das Passwesen selbst ist noch keine hundert Jahre alt. 1920 definierte der Völkerbund im Rahmen einer Konferenz in Paris am 21. Oktober Richtlinien für Pässe.

Ab 1922 wurden sogenannte Nansen-Pässe vergeben, benannt nach dem damaligen ‚Hohen Kommissar des Völkerbundes im Zusammenhang mit dem Problem betreffend die russischen Flüchtlinge‘, dem norwegischen Polarforscher Fritjof Nansen. Diese Pässe gewährten den russischen Flüchtlingen legale Migration. (Quelle: Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jh, herausgegeben von Jochen Oltmer, google-book)

1919, nachdem die globalisierte Welt kollabiert war, soll John Maynard Keynes im Rückblick auf die Vorkriegszeit wehmütig gesagt haben:

Wer es wünschte, konnte billig und komfortabel in jedes Land oder jede Klimazone reisen, ohne Pass oder andere Formalitäten. Und er wäre sehr gekränkt und sehr überrascht gewesen, wenn es nur die kleinste Störung gegeben hätte.” (Quelle: Wall Street Journal)

Europäische Union
Europa: die Grenzen des Schengenraums

‚Schengenraum‘ (Grafikquelle: www.zukunfteuropa.at)

Legende

  • Blau: Staaten der Europäischen Union im Schengenraum
  • Khaki: Staaten im Schengenraum, die keine Mitglieder der Europäischen Union sind
  • Altrosa: Staaten der Europäischen Union, die noch nicht im Schengenraum sind.

Quellen und links

LE MONDE diplomatique / Februar 2016

Passport

Zukunft Europa

Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jh, herausgegeben von Jochen Oltmer

Wall Street Journal WSJ

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