Medien: Spiegel der Gesellschaft mit Fähigkeit zu Selbstzweifeln

Zwei Texte über Medien beschäftigen 1-sicht im noch jungen Jahr 2016. Der eine stammt aus der Feder von Joseph Roth und ist in ‚Reisen in die Ukraine und nach Russland‘  erschienen. Der andere ist aus der Feder (oder Tastatur, dazu kann 1-sicht keine Hinweise geben) von Armin Thurnher und ist im Falter 52/15 erschienen.

Befasst Roth sich in seinem Text ‚Öffentliche Meinungen, Zeitungen, Zensur‘, den er 1926 für die Serie ‚Reise in Rußland‘ für die Frankfurter Zeitung verfasste, mit der Entwicklung des in der Form neuen Medienwesens nach der Revolution, so diskutiert Thurnher Ende 2015 im Artikel ‚Die Wahrheit über die Lügenpresse‘ die Entwicklung der hiesigen Medienlandschaft angesichts zunehmender Ökonomisierung allen gesellschaftlichen Lebens und des Einflusses digitaler Medienformen und vollkommen neuer Mediennutzung.

Die beiden journalistischen Kritiker eint, so scheint es, der scharfe Blick auf gesellschaftliche Zustände und ein waches Sensorium für Tendenzen, die einem reifen Medienwesen zuwider laufen.

Aufmerksamkeit als Ware und sterile Presse

Thurnher schreibt:

Man kann Journalismus in aufklärerischer Tradition als Profession auffassen, die durch öffentliche Berichte der Verbesserung des Gemeinwesens dient. Oder man kann ihn als Gewerbe auffassen, das sein Geschäft um jeden Preis macht.

Mehrere Tendenzen gefährden laut Thurnher das ideale, wenn auch fiktive Ziel von Journalismus. Zu diesen Tendenzen zähle das durch die Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse veränderte Verhältnis des Journalismus zum Publikum. Nicht dieses sei Adressat sondern die Auftraggeber der Werbung.  Die Aufmerksamkeit, so Thurnher, ist nicht Ziel sondern Handelsware geworden.

Und Roth konstatiert für das postrevolutionäre Rußland einen Mangel an Unabhängigkeit der Medien – allerdings nicht von Auftraggebern aus der Wirtschaft sondern von der Regierung:

Die Rücksicht auf den Leser macht die Journalistik fruchtbar. Die Rücksicht auf die Zensur macht die Presse steril. Die voraussetzungslose, das heißt nicht gesinnungslose, Betrachtung der Welt macht einen Artikel lebendig und anschaulich. Die ideologisch gebunde Betrachtung der Welt verursacht provinzielle, kleinliche und außerdem falsche Berichte.

Vom Wert ‚journalistischer Kleinarbeit‘, von Selbstzweifeln und Spiegeln

Beide halten offensichtlich das Handwerk des Journalismus für unverzichtbar.

So kritisiert Roth den Hang der (gelenkten) russischen Medien zu ‚authentischen‘ Berichten ‚aus erster Hand‘ von Arbeiterkorrespondeten, Dorfkorrespondenten, Schülerkorrespondenten etc. . Es erregt sein Mißfallen, dass der Leser die Zeitung selbst macht, dass jeder sein eigener Journalist ist:

Nicht journalistische Fachleute machen die Zeitungen, sondern gute zuverlässige Handhaber und Handlanger der Ideologie. Das was man ‚journalistische Kleinarbeit‘ nennt, was das eigentliche Gerüst der Zeitung ist, der Bericht des Tages und sein Spiegelbild, die nackte dramatische Fabel des Lebens, das ist in den russischen Blättern primitiv, dilettantisch, unbeholfen.

Knapp 90 Jahre später schreibt Thurnher an gegen den Fragmentierungs- und Individualisierungsdruck des digitalen Raums. Dort gehe es weniger um Wahrhaftigkeit als um Selbstdarstellung.  Thurnher spricht der ‚Qual der genauen Beschreibung‘, der  ‚Mühe der Kritik‘ und ‚der kritischen Reflexion des eigenen Standpunktes‘ das Wort.

Journalismus kann und darf nicht an sich selbst glauben. Er muss an sich selbst zweifeln. Unausgesetzt. Mindestens so stark wie an jenen Missständen, die er untersucht, oder jenen Dienstleistungen, die er prüft, ehe er sie seinem Publikum empfiehlt. Wenn er sich selber ernst nimmt, weiß er: Er ist potenziell ein Missstand.

Glaubwürdiger Journalismus ist redaktioneller Journalismus (egal welchen medialen Aggregatszustands), der institutionell imstande ist, sich selbst in Zweifel zu ziehen, der in sich selbst eine kleine Öffentlichkeit darstellt. Nur redaktioneller Journalismus kann erzeugen, was Demokratie braucht, nämlich ein informiertes Publikum, das über alle in gleicher Weise bekannten qualifizierten Informationen verfügt; nur er kann diese Informationen qualifizieren.

Und nochmals Roth:

Weiß diese junge Presse, weiß diese junge Regierung noch nicht, dass man zur Spiegelung des Lebens der Spiegel bedarf? Daß man aber keineswegs einen beliebigen Gegenstand, eine Teekanne oder eine Hacke oder ein Fleischmesser als Spiegel verwenden kann?

Quellen und links

Joseph Roth, Reisen in die Ukraine und nach Russland, herausgegeben von Jan Bürger, C.H. BECK textura; Beck

Armin Thurnher, Falter 52/15: Die Wahrheit über die Lügenpresse – Warum der Journalismus Grund hat, verunsichert zu sein. Und warum er Selbstzweifel braucht. Ein Jahresrückblick. Falter

Über Joseph Roth in Wikipedia-Joseph Roth

Über Armin Thurnher in Wikipedia-Armin Thurnher

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