Kulturelle Identität – ein Mythos?

Aktuell haben Streitgespräche um Integration und Assimilation, um Leitkultur und Identität Hochkonjunktur. Im Deutschlandfunk vom 12.2.2017 war ein Debattenbeitrag von Professor Daniel Hornhuff zu hören, der hier auszugsweise zusammengefasst ist.

Kulturelle Identität und Werte

Der Verzehr von Schweinefleisch gilt manchen als Wesensmerkmal einer bestimmten  ‚Leitkultur‘ beziehungsweise als Zeichen von Integrationswille oder gelungener Integration in diese Leitkultur. Neben den Essgewohnheiten ist ‚die Kultur‘ schwer umkämpftes Terrain jener, die vermeintlich definierte Identitäten schützen wollen. ‚Die Kultur‘ sei vor Einflüssen des Marktes ebenso zu schützen, wie vor Einflüssen des irgendwie Andersartigen. Das deutsche Kulturschutzgesetz beispielsweise möchte „Kulturgut, das für die Bundesrepublik von nationaler Bedeutung ist“ schützen. Dem hält der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller pointiert entgegen: „Ein glaubwürdiges Gesetz müsste nicht das gemeindeutsche Interesse an der Kultur schützen, sondern eher die Kultur vor dem Gemeindeutschen.“

Werte – gibt es die?

Die gemeinsamen – seien es die vermeintlich österreichischen, deutschen, europäischen, christlichen – Werte sind hoch zu halten, hört man von Linken wie Rechten, von Progressiven wie Konservativen, von Pragmatikern wie Idealisten. Sie meinen Unterschiedliches und fordern Unterschiedliches, oftmals Entgegengesetztes. Das zeigt,

Werte sind gerade keine essentiellen Eigenschaften von Menschen, Gemeinschaften, politischen Systemen oder kulturellen Ordnungen. Werte sind nie universell. Wären sie es, können Werte kein Gegenstand von Auseinandersetzung sein. Aber genau das sind sie: Bestandteil von Kommunikation, von Streit, von Zweifeln. Werte sind eine Frage der Perspektive und damit relative Größen. (Andreas Urs Sommer)

Allerdings entbindet uns dies nicht davon,

  • um Werte zu ringen
  • sie ständig von einer geänderten Warte und mit Distanz zu betrachten
  • den eigenen Werten zu misstrauen und
  • andere Wertauffassungen gleichberechtigt zuzulassen.

Ein souveränes Verhältnis zu jenen Werten zu entwickeln, die man kraft Sozialisation und Erziehung als die eigenen wahrnimmt, wäre ein aufklärerischer Akt und ein guter Weg, Wertemonotheismus zu vermeiden.

Dadurch unterscheiden sich moderne Gesellschaften von Glaubensgesellschaften. Hier wird vernunftgeleitet um stichhaltige Argumente gerungen. Wohingegen Glaube nicht diskutabel ist. Was nicht bedeute, dass Vernunft und Glaube einander ausschließen. Vielmehr erlange die Vernunft nur Sinn, wenn an etwas geglaubt wird, sei der Glaube also Bestandteil der Vernunft.

Wertedebatten – der Weg ist das Ziel

Wer nicht bereit ist, Werte stets aufs Neue auszuhandeln, bereitet den Boden für totalitäre Gesellschaften. Wer sich auf Wertehierarchien einlässt, befördert rassistische Tendenzen.

Es ist verführerisch, weil in instabilen Zeiten Stabilität versprechend, über ‚Kultur‘ Identität und Zugehörigkeit stiften zu wollen. Oft entsteht diese erst durch die Abgrenzung – und Abwertung – anderer Identitäten (Zivilisierte – Wilde;  Weiße – Schwarze; Protestanten – Katholiken; Orientale – Europäer; …). Diese Art von Denken, so die Publizistin Carolin Emcke, prägt sowohl rechtsextremistische wie dschihadistische Gruppen.

Zu einem besonnenen und aufgeklärten Umgang mit Werten rief jüngst Norbert Lammer, Präsident des deutschen Bundestages auf:

„Nach meiner Überzeugung brauchen wir in Deutschland mehr denn je den kontinuierlichen Diskurs über den Mindestbestand an gemeinsamen Orientierungen und Überzeugungen, unter allen Bürgerinnen und Bürgern, den Einheimischen wie den Zuwanderern – ohne Tabuisierungen.“

Auf persönlicher Ebene bedeutet Wertepluralismus, „die Schmach der eigenen Relativität zu aktzeptieren“.

Sich zu fragen, woher das eigene mehr oder weniger konkret wahrgenommene Wertespektrum kommt, wodurch es bestärkt und gestützt wird, ist ein Schritt, dem Mythos der kulturellen Identität keine weitere Nahrung zu geben. Wer sich selbst relativiert, begeht einen „Akt von höchster politischer Qualität“, denn er

„wechselt die Kategorie: Wo allenthalben wie von Sinnen nach kulturellen Identitäten geschrien und immer neue Leitkulturen ausposaunt werden, besetzt der Sich-selbst-Misstrauende einen anderen Ort. Dort mag er ebenfalls mit dem ganzen Eifer seiner Person über Werte diskutieren – er wird aber längst nicht so leicht in Versuchung geraten, Werte als gegeben zu betrachten. Und mit Sicherheit wird er leidenschaftlich für seine Sache streiten – aber zugleich wissen, dass diese jeweils nur eine unter vielen anderen ist. Seine Meinung wird er als Möglichkeit deklarieren – und Abstand davon nehmen, abschließende Antworten geben zu können. Welch‘ ein Gewinn für ein Miteinander unter den Bedingungen der Moderne!“

Quellen und links

Der Mythos von der kulturellen Identität, Deutschlandfunk 12. Februar 2017

Daniel Hornuff: Vertretungsprofessor für Kunstwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

Über Werte auf 1-sicht

Unsere Werte – Artikel 2 des EU-Vertrages

Über Herausforderungen und Chancen der aktuellen Migration – Beitrag 2

 

1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand

 

1-sicht empfiehlt Lese-, Hör-, Sehstoff: Februar 2017

Hörstoff:
Sweet Home Chicago
The White House All Stars

Barack Obama (vocal), Mick Jagger (vocal), Buddy Guy (vocal, guitar), BB King (vocal, guitar), Jeff Beck (guitar), Trombone Shorty (trombone), Keb Mo (guitar), Shemekia Copeland (vocal, guitar),  Susan Tedeschi (vocal, guitar), Derek Trucks (guitar), Warren Haynes (guitar), Gary Clark, Jr. (guitar) performing ‚Sweet Home Chicago“.

Vor rund 5 Jahren, am 21. Februar 2012 im Weißen Haus:

Kurzfassung

Langfassung

Barack Obama über Bluesmusik

… Niemand geht durch das Leben ohne beides zu erleben – Freude und Schmerz, Triumph und Traurigkeit. Der Blues erfasst alles, manchmal mit nur einem Vers oder einer Note. …

Über das Konzert im White House Archiv

President Barack Obama hosts, “In Performance at the White House: Red, White and Blues” (February 21, 2012)

Menschenrechte – Artikel 21: Allgemeines und gleiches Wahlrecht

1. Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.
 2. Jeder hat das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern in seinem Lande.
3. Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.

Erläuterungen zu Artikel 21 – Allgemeines und gleiches Wahlrecht; Zulassung zu öffentlichen Ämtern

Ohne ein bestimmtes politisches Modell vorzuschreiben, verbrieft Artikel 21 das Recht jedes Menschen, Vertreter in ein Parlament zu wählen – und zwar in vorgeschriebenen regelmäßigen Zeitabständen. Die Stimme jeder Bürgerin, jedes Bürgers zählt gleich viel. Die Wahlen müssen frei und unverfälscht sein. Jeder Mensch muss die gleichen Zulassungsmöglichkeiten zu öffentlichen Ämtern vorfinden. Vorrang für benachteiligte Gruppen ist solange erlaubt, bis deren Benachteiligung aufgehoben ist. (Informationsplattform humanrights.ch)

Wahlrecht in Österreich

Im Kaiserreich Österreich wurde 1848 erstmals eine Verfassung ausgearbeitet, es gab erste freie Wahlen zum Reichsrat. Die Revolution der BürgerInnen, die dazu geführt hatte, wurde jedoch militärisch niedergeschlagen. Die folgende Zeit regierte Kaiser Franz Joseph I neoabsolutistisch ohne Verfassung und ohne Parlament. Die Unzufreidenheit des Volkes wuchs. Es verlangte mehr demokratische Rechte. Mit dem Februarpatent wurde die Gesetzgebung zwischen dem Kaiser und den zwei Kammern des Reichsrates (Herrenhaus und Abgeordnetenhaus) geregelt. Das Februarpatent ist somit die Geburtsurkunde des ersten österreichischen Parlaments. Wahlberechtigt waren Männer ab dem 24. Lebensjahr. Über vier Kurien wurden die Vertreter in das Abgeordnetenhaus gewählt.

1867 verfasste der Reichsrat (nicht mehr der Kaiser!) die sogenannte Dezemberverfassung, in die das Wahlrecht aufgenommen wurde. Das Volk forderte immer vehementer direkte Wahlen. Ab 1873 durfte wählen, wer mindestens 10 Gulden an Steuern bezahlte (Zensuswahlrecht). Eine Stimme zählte umso mehr, je mehr Besitz der Wähler hatte. 1882 wurde die notwendige Steuerleistung auf 5 Gulden herab gesetzt. Ab 1896 waren Männer wahlberechtigt, auch wenn sie keine Steuern zahlten. Voraussetzung: Sie lebten zumindest 6 Monate in einer österreichischen Gemeinde.  Die Stimmen waren allerdings noch immer nicht gleich viel wert. Erst 1907 wurde das direkte, allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht eingeführt. Für Männer.

Mit dem Tod Kaiser Franz Josephs im Jahr 1916 endet die Monarchie. 1918 wurde die Republik Österreich als demokratischer Staat gegründet. In der neuen Wahlordnung wurde das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen festgeschrieben. In den Jahren des autoritären Ständestaats 1933-1938 und der daran anschließenden nationalsozialistischen Diktatur gab es keine freien Wahlen.  Am 25.11.1945 wählten die ÖsterreicherInnen erstmals wieder VolksvertreterInnen ins Parlament. Die Nationalratswahlordnung von 1945 knüpft an das Wahlrecht der ersten Republik an. (Quelle: Demokratiewebstatt)

Quellen und links

Amnesty International

Informationsplattform humanrights.ch

demokratiewebstatt

Über Menschenrechte auf 1-sicht

Über Menschenrechte auf 1-sicht

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USA: Millionäre machen Politik für ‚die Vergessenen‘

„Die vergessenen Männer und Frauen unseres Landes werden nicht länger vergessen sein“, sagt der 45. US-Präsident in seiner Antrittsrede am 20. Jänner 2017. Und: „Viel zu lange hat eine kleine Gruppe in unserer Hauptstadt die Früchte des Regierens geerntet, während das Volk die Kosten getragen hat. … Das Establishment schützte sich selbst, nicht die BürgerInnen.“

So spricht Donald Trump, der nach eigenen, 2015 gemachten Angaben über ein Vermögen von mehr als 8 Milliarden (nach späteren Aussagen mehr als 10 Milliarden) US-Dollar verfügt (wikipedia) und der nun 8 Millionäre, darunter 2 Milliardäre, als MinisterInnen ernennt (TIME):

Wirtschaftsminister Wilbur Ross: 2,5 Milliarden US-Dollar, verdankt sein Vermögen dem Ankauf und der Restrukturierung bankrotter Unternehmen

Bildungsministerin Betsy Devos: 1,25 Milliarden US-Dollar, verdankt ihr Vermögen der Hochzeit mit einem Erben von Amway

Außenminister Rex Tillerson: 325 Millionen US-Dollar, war CEO von ExxonMobil

Finanzminister Steve Mnuchin: 300 Millionen US-Dollar, als ehemaliger Partner bei der Investmentbank Goldman Sachs schloss er Tausende Menschen während der Rezession von der Bank aus

Arbeitsminister Andy Puzder: 45 Millionen US-Dollar, als Geschäftsführer der Fast-Food-Kette CKE verhinderte er Richtlinien wie die Erhöhung des Mindestlohns – Aktualisierung: Andy Puzder trat von der Nominierung zurück, als sich abzeichnete, dass er nicht genügend Stimmen bekommen wird.

Minister für Wohnungsbau und Stadtentwicklung Ben Carson: 29 Millionen US-Dollar, Neurochirug, der 2016 gegen Trump wahlkämpfte

Ministerin für Transport Elaine Chao: 24 Millionen US-Dollar, ehemalige Arbeitsministerin, sitzt in 4 Aufsichtsräten und ist mit Senator Mitch McConnell verheiratet

Gesundheitsminister Tom Price: 10 Millionen US-Dollar, investierte in Pharma-Unternehmen, sponserte Gesetzgebung, die zu seinen Gunsten war

Insgesamt beträgt das Reinvermögen des neuen US-Kabinetts 4,5 Milliarden US-Dollar – ohne das Vermögen des Präsidenten.
1 Dollar = 0,93 Euro (Währungsrechner, 6. Februar 2017)

Möge der Hunger nach Reichtum nun gestillt und das Streben der Kabinettsmitglieder frei dafür sein, dem amerikanischen Volk zu dienen.

Quellen und links

TIME, Ausgabe vom 30. Jänner 2017, Time online

über Donald Trum auf wikipedia

über Amway auf Forbes

über ExxonMobil auf wikipedia

über Goldman Sachs auf wikipedia

über CKE-Restaurants auf wikipedia

The New Yorker, 15.2.2017, The Rejection of Andy Puzder

Währungsrechner

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