Laura hat Hunger

Mit der linken Hand wischt Laura die Scheibe frei. Das Winken ihrer Mutter sieht sie schon lange nicht mehr. An ihr ziehen fremde Landschaften vorbei. Sie hat Hunger. Wie fast immer. Im Zug ist es laut. Manche Kinder weinen. Sie weint nicht, sie ist ja schon 14. Ihre große Schwester weint auch nicht.  Irgendwann schläft Laura ein. In der Nacht wird sie geweckt. Sie müssen auf ein Schiff.  „Gleich sind wir in Schweden“, flüstert ihre Schwester. Dort hat angeblich niemand Hunger. Deshalb dürfen Kinder aus Wien dorthin. An den Namensschildern aus Pappe, die sie um den Hals tragen, werden Laura und ihre Schwester von jenem schwedischen Ehepaar erkannt, bei dem sie nun wohnen werden.

Wir schreiben das Jahr 1920. In Wien herrschen Hungersnöte. Laura und ihre um 1 Jahr ältere Schwester können einige Monate in Schweden leben, in die Schule gehen und sich satt essen.

24 Jahre später. Wieder sitzt Laura in einem überfüllten Zug. Mit ihr sind ihre 5 Kinder – 2 Söhne, 3 Töchter, die kleinste ist 6 Monate alt. Von ihrem Mann gibt es seit Monaten keine Nachricht. Sie hat Hunger. Wie fast immer. Im Zug sind viele Frauen und noch viel mehr Kinder. Sie werden von Wien weggebracht, um den Bomben zu entkommen. Ihr aller Ziel: Bayern. Wenn der Zug in den Stationen hält, geht sie mit den anderen Frauen zur Lokomotive. Dort gibt es heißes Wasser für das Baby. In Bayern kommen sie in ein Lager. In dem riesigen Raum mit den vielen Menschen fürchten sich die Mädchen sehr. Die 3-Jährige fürchtet sich außerdem vor der großen Grube, in der alle ihre Notdurft verrichten.

Angst, Hunger, 5 kleine Kinder, Hoffnung, Überlebenswillen, Fleiß und geschickte Hände hat Laura im Reisegepäck. Sonst nichts. Nach Tagen, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen, werden sie und die Kinder weggebracht. Sie kommt mit der 3-Jährigen und dem Baby auf einen Bauernhof, auf dem ihr Fleiß in den nächsten Monaten sehr gefragt ist. Die Söhne und die 5-Jährige leben jeweils bei anderen Familien. Sie sieht sie wochenlang nicht.

Fast ein Jahr später, als der Krieg zu Ende ist, kann Laura mit allen Kindern zurück nach Wien. Ihr Haus ist nicht von Bomben zerstört. Die Bombentrichter ganz in der Nähe des Hauses werden den Kindern zu makabren Spielplätzen.

Laura wieder zu Hause

Ihrem 6. Kind schenkt Laura in Friedenszeit das Licht der Welt. Noch viele Jahre lang darf sich die Familie über fallweise Geschenkpakete aus Schweden freuen.

Aus dem Baby, das bereits im Alter von ½ Jahr auf der Flucht vor Bomben war, wird 21 Jahre danach meine Mutter.

Nachwort

Das ist eine persönliche Geschichte, die auf den Erlebnissen meiner Großmutter mütterlicherseits, Laura M. (1906 – 1975), beruht. Ihre Töchter teilten die Erinnerung an ihre Erzählungen mit mir. Meine Phantasie ergänzte, wo Details fehlten.

Laura verbrachte nach dem 1. Weltkrieg als Volksschülerin 2 Mal (einmal mit der großen Schwester, einmal alleine) mehrere Monate bei einer hilfsbereiten Gastfamilie in Südschweden, um dem Elend und den Hungersnöten in Wien zu entkommen. Gegen Ende des 2. Weltkrieges musste sie mit damals 5 Kindern Wien verlassen, weil die Zahl der Bomben auf ein strategisch wichtiges Produktionswerk in ihrem Heimatbezirk zunahm und die Gefahr für die Bevölkerung groß war.

Lauras Schulzeugnis aus Sunne, 1920
Lauras Schulzeugnis aus Sunne/Schweden