Mit dem OCEAN-Modell im Big-Data-Ozean fischen

Oder: Welche Nachricht kommt zu mir und warum?

Der moderne Mensch hinterlässt ungezählte, mannigfaltige Spuren. Bei der Bezahlung mittels Karte, beim Sharen und Liken in Social Media, beim Nutzen des smartphones und anderer digitaler Anwendungen. Sehr zur Wonne der modernen Spurenleser wie Big-Data-AnalystInnen und PsychometrikerInnen sowie all jener, die die Bevölkerung punkto Kauf-, Wahl- oder sonstigem Verhalten beeinflussen wollen.

Mittels sogenanntem OCEAN-Modell – entwickelt in den 1930er Jahren – lassen sich aus dem unüberschaubaren Datenpool sehr zuverlässig sehr punktgenaue Persönlichkeitsprofile erkennen. Gemäß OCEAN sind 5 Aspekte für die Definition einer Persönlichkeit relevant:

  • Openness (Offenheit für Erfahrungen)
  • Conscientiousness (Gewissenhaftigkeit, Perfektionismus)
  • Extroversion (Extraversion, Geselligkeit)
  • Agreeableness (Verträglichkeit, Kooperationsfähigkeit, Empathie)
  • Neuroticism (Neurotizismus, seelische Verletzlichkeit)
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Fünf-Faktoren-Modell (OCEAN-Modell), Quelle: wikipedia

Brauchte es ehemals komplizierte Fragebögen, um die individuellen Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen wissenschaftlich fundiert ableiten zu können, liegen die Daten dank Internet und Social Media sozusagen griffbereit herum. Man braucht sie nur noch zusammenfügen. Das taten junge Forscher am Zentrum für Psychometrie an der Cambridge University in England (Michal Kosinski und andere). Mit einer kleinen App, die sie als Online-Persönlichkeitstest in Facebook verbreiteten, boten sie mit einigen wenigen Fragen ein Persönlichkeitsprofil an – und erhielten persönliche Daten in unerwarteter Menge. Bald verfügte man über den größten bis dahin je erhobenen psychologischen Datenbestand.

Online-Persönlichkeitstests als Quelle für psychologische Daten

Aus den Antworten der am Online-Persönlichkeitstest (MyPersonality) Teilnehmenden kalkulierten die Forscher die individuellen OCEAN-Werte, glichen sie mit allen möglichen anderen Daten wie Shares und Likes auf Facebook, Geschlecht, Alter ab und zogen daraus ihre Schlüsse.  2012 erbringen sie den Nachweis, dass man aus durchschnittlich 68 Facebook-Likes

  • Hautfarbe mit 95%iger Treffsicherheit,
  • geschlechtliche Orientierung mit 88%iger Treffsicherheit und
  • politische Orientierung mit 85%iger Treffsicherheit

bestimmen kann. Zudem ließen sich berechnen:

  • Intelligenz
  • Religionszugehörigkeit
  • Alkohol-, Zigaretten-, Drogenkonsum

Auf der Suche nach bestimmten Profilen – mit Mikrotargeting zum Wahlerfolg

Aus Daten werden Persönlichkeiten. Und: In Daten kann man definierte Persönlichkeiten suchen und finden. Der Forscher und Mitentwickler der Persönlichkeitstest-App Kosinski erkennt die Geister, die er rief und warnt fürderhin vor den Gefahren, indem er seine Arbeiten mit Hinweisen versieht: Mit seinen Methoden könne ‚das Wohlergehen, die Freiheit oder sogar das Leben von Menschen bedroht‚ werden. Eine Wahl-Management-Agentur erkennt die Chancen für ihr Portfolio ‚Marketing auf Basis eines psychologischen Modells, Schwerpunkt: Wahlbeeinflussung.‘

2015 – in Großbritannien sind die Brexit-BefürworterInnen engagiert und deutlich vernehmbar – wird bekannt, dass die ‚leave.eu‘-Kampagne unter Nigel Farage sich eines neuartigen Politmarketings, des so genannten Mikrotargetings auf Basis des OCEAN-Modells bedient.

Ein knappes Jahr später – genauen Polit-BeobachterInnen war die Ähnlichkeit zwischen ‚leave.eu‘ und der Wahlkampfagenda Donald Trumps aufgefallen – erfährt man, dass Trump sich im US-Präsidentschaftswahlkampf derselben Politmarketingfirma anvertraut hat, wie Nigel Farage (Cambridge Analytica). Das Unternehmen kombiniert 3 Elemente:

  • psychologische Verhaltensanalyse nach dem OCEAN-Modell
  • Big-Data-Auswertung (in USA sind persönliche Daten käuflich erwerbbar)
  • Ad-Targeting (profilspezifische individuelle Werbung)

Für Donald Trump macht sich die Politmarketingfirma nun gezielt auf die Suche nach

  • unentschlossenen RepublkanerInnen, um diese von Trump zu überzeugen
  • möglichen Clinton-WählerInnen, um diese von der Wahl abzuhalten.

Die WahlhelferInnen, die von Haus zu Haus und Tür zu Tür gehen, werden mit einer App ausgestattet, die zeigt, welcher Persönlichkeitstyp und welche politische Einstellung sie hinter der Tür erwartet. Der entsprechende Gesprächsleitfaden ist mit dabei, die Reaktionen werden in die App und damit in den Datenpool eingespielt.

Die Argumentation erfolgt so individuell wie möglich. Zum Bespiel sind im Zusammenhang mit Waffengesetzen folgende unterschiedliche Ansätze im Einsatz:

Für ängstliche Menschen mit hohen Neurotizismuswerten werden Waffen als Versicherung dargeboten. Das dazugehörige Bild zeigt eine  Hand, die auf eine Scheibe schlägt.

Für konservative Typen mit hoher Extraversion wird das gleiche Anliegen mit dem Bild eines Mannes und eines Kindes im Sonnenaufgang in einem Feld bereitet. Mann und Kind tragen eine Flinte.

Mögliche Clinton-WählerInnen werden durch Zuspielung entsprechender Nachrichten von den Wahlen abgehalten. Zum Beispiel sendete man den BewohnerInnen des Stadtteiles Little Haiti in Miami Nachrichten über das Versagen der Clinton-Stiftung beim Erdbeben in Haiti.

Ein Trump-Argument sei in 175.000 unterschiedlichen – nur in winzigen Details voneinander verschiedenen – Versionen in die Welt geschickt worden.

32 US-Persönlichkeitstypen?

Laut der Politmarketingfirma Cambridge Analytica leben in den USA 32 unterschiedliche Persönlichkeitstypen. Wer eine Vorliebe für in US gefertigte Autos hat, sei mit großer Wahrscheinlichkeit geneigt, Trump zu wählen. Deshalb habe sich dieser in der letzten Wahlkampfwoche des US-Präsidentschaftswahlkampfes 2016 auf Michigan und Wisconsin konzentriert. Schließlich hat Trump entgegen den Prognosen ‚herkömmlicher‘ Meinungsforscher die Wahl zum 45. US-Präsidenten gewonnen. Und in Großbritannien stimmte eine Mehrheit für den Ausstieg aus der EU.

Das Internet, so einst die Verheißung, mache volle Information für alle möglich und werde das demokratische Medium schlechthin sein. Da hat man wohl die Rechnung ohne den Algorithmus gemacht.

Quellen und links

Das Magazin: Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt, 3. Dezember 2016, Hannes Grassegger, Mikael Krogerus

Zeit online: Big Data allen entscheidet keine Wahl, 6. Dezember 2016, Patrick Beuth

OCEAN-Modell: wikipedia

The Power of Big Data and Psychographics, Alexander Nix, youtube

Zeitung heute: Redaktion oder Rechenzentrum? 1-sicht

1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand