Die Rolle von Medien bei Amokläufen, Terror- und Mordanschlägen

Im Nachklang der Anschläge, Amokläufe und Morde in Bayern, die Ende Juli innerhalb weniger Tage stattgefunden haben, ist – wieder einmal – die Diskussion darüber entbrannt, welche Rolle Medien bei der Berichterstattung über TäterInnen, Tathergänge, Tatziele etc. einnehmen sollen, worüber und wie sie berichten sollen. Im Folgenden drei Diskussionsbeiträge aus deutschen Medien.

In der Süddeutschen Zeitung schreibt Ronen Steinke unter Berufung auf Erkenntnisse aus der Kriminalpsychologie, deren es in den USA traurigerweise dank höherer Fallzahlen mehr gibt, als bislang in Europa, über erkennbare Muster von Nachahmung und TäterInnen, die vor allem eines suchen: Aufmerksamkeit. Er nennt Forschungsergebnisse der Statistikerin Sherry Towers:

Amokläufe an Schulen, in Kinos oder in Gemeindezentren ereignen sich nicht gleichmäßig über die Jahre verstreut wie andere Verbrechen. Sondern es gibt immer wieder kleinere Wellen von ihnen.

Nach einem Amok-Verbrechen, so schrieb Towers in einem im Juli 2015 veröffentlichten Fachaufsatz gemeinsam mit vier Ko-Autoren, gebe es durchschnittlich 13 Tage lang ein messbar – um 22 Prozent – erhöhtes Risiko von weiteren Amoktaten im Land. Erst danach sinke die Wahrscheinlichkeit wieder. Vierzig Prozent der Taten, so zählt die Wissenschaftlerin, folgten unmittelbar auf eine andere Tat in den zwei Wochen zuvor. Und einzelne, besonders spektakulär in Szene gesetzte Amok-Schießereien schienen sogar Trends zu setzen: Nach dem Massaker in einem Kino in Aurora am 20. Juli 2012 etwa schlugen gleich zwei weitere Schützen in Kinos zu, einer in Louisiana, einer in Tennessee, beide innerhalb von nur zwei Wochen.

Ansteckung latent tatbereiter Menschen

Towers geht davon aus, dass  potentielle Täter via Medien zur Nachahmung „angesteckt“ werden. Ihre These lautet, je umfangreicher die Medienberichterstattung sei, desto wahrscheinlicher sei die Ansteckung eines „nachahmungsgeneigten Menschen“, je plastischer Reportagen seien, desto höher das Nachahmungsrisiko, da Identifikation mit dem Täter besser möglich sei.

Kriminalpsychologen argumentieren seit langem, Gesichter von AmoktäterInnen nicht scharf zu zeigen und deren Namen nicht zu nennen, damit die Intention potentieller TäterInnen, Aufmerksamkeit zu erlangen, konterkariert werde.

Ähnliche Erfahrungswerte gäbe es zur Berichterstattung über Suizide. Deshalb hätten Zeitungen in den USA und Deutschland sich selbst verpflichtet, mit plastischen Details zurückzuhaltend umzugehen.

In der Welt diskutiert Medienredakteur Christian Meier die Entscheidung der Le Monde, keine Bilder von Terroristen mehr zu zeigen, um deren Glorifizierung hintanzuhalten und keinen Rahmen für eine solche zu bieten. Ein grundsätzliches ‚Bilderverbot‘ von TäterInnen geht seines Erachtens zu weit. Er spricht sich gegen starre Regeln und für kontextbezogenes Vorgehen sowie für Skepsis gegenüber den Botschaften der Bilder aus.

Meier hält die Vorgehensweise der Zeitung B.Z., dem Täter, der in München Menschen mordete, die Titelseite zu verwehren, für angemessener. Im Innenteil berichtete die Zeitung sehr wohl samt Bild. Laut Meier müsse man sich „ein Bild von einem Mörder machen können“.

B.Z.
Bildquelle: Die Welt

Dilemmata von JournalistInnen

Bereits 2015 referierte der ZEIT-Redakteur Yassin Musharbash bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes in Mainz über die Dilemmata der JournalistInnen bei der Berichterstattung über Terrorismus, im konkreten Fall des IS-Terrorismus. Laut Musharbash kalkulieren TerroristInnen die Reaktionen der Medien vorab mit ein. Machen sich also Medien, die über Terrorakte berichten, unwillentlich zu Multiplikatoren für die Sache der TerroristInnen? Befördern sie den „Werther-Effekt“, wie BKA-Kreise den Nachahmungs- bzw. Nacheiferungsdrang auch im Falle von Terror und Mord nennen? Musharbash hält es für richtig, über Terrorakte zu informieren, es sei das Recht der Bevölkerung, informiert zu werden. Es sei jedoch zwingend, sich als JournalistIn Unabhängigkeit zu bewahren, also nicht etwa ausschließlich IS-eigene Quellen als Recherchequellen zu nutzen, und gegebenenfalls Lücken in der Recherche, Nicht-Wissen zu benennen. Es sei das Ziel guten Journalismus, mündige BürgerInnen darin zu unterstützen, sich ein Bild von der Welt zu machen.

Journalistinnen und Journalisten sind keine Terrorbekämpfer. Wir sind Berichterstatter. Wir können nicht Teil von Strategemen sein, die manchmal unter beschönigenden Namen wie „counter narratives“ oder „Gegenerzählungen“ fingieren. Das ist nicht unsere Rolle. Propaganda und Gegen-Propaganda, Narrative und Counter-Narrative, Anklage und Verteidigung: Das sind alles Begriffspaare, die von einer schwarz-weißen Welt ausgehen. Unsere Aufgabe ist aber es, eine reale Welt voller Grautöne  zu beschreiben.

Quellen und links

Süddeutsche Zeitung: Was Forscher über Nachahmungstäter wissen, Ronen Steinke, 25. Juli 2016

Die Welt: Du sollst dir ein Bild von einem Mörder machen, Christian Meier, 29. Juli 2016

Zeit Online: Medien, Polizei und die Inszenierung des Terrorismus, Yassin Musharbash, 19. November 2015

Werther-Effekt, wikipedia

Über Medien auf 1-sicht: Medien: Spiegel der Gesellschaft mit Fähigkeit zu Selbstzweifeln, 4. Jänner 2016

Leseempfehlung von 1-sicht über IS-Terror, 1. August 2016

1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand