Nach der Wahl in der Türkei: Erdogans Kriegsgewinn – Deutschlandfunk 2.11.2015

Mit der Beendigung des Friedensprozesses mit der PKK, der Diskreditierung politischer Gegner und der Polarisierung der Gesellschaft hat sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seiner AKP wieder die absolute Mehrheit gesichert, kommentiert Reinhard Baumgarten im DLF. Für das Land verheiße das nichts Gutes.

Der Aufwand hat sich gelohnt – für die AKP und Präsident Erdoğan. Die Bombardierungen der PKK-Stellungen; die Pola­risierung der Gesellschaft; die Übernahme oppositioneller Sender und Zeitungen; die Diskreditierung der prokurdischen HDP. Die Wähler haben den „Fehler vom 7. Juni“ korrigiert. Genau das war der Wahlausgang vor fünf Monaten: ein Fehler. Diese Kurz­analyse stammt vom Präsidenten höchstselbst. Das ist jener 61-jährige Mann, der qua Verfassung zur Überparteilichkeit verpflichtet ist.

Recep Tayyip Erdoğan kann mit dem Wahlausgang zufrieden sein. Seine AKP hat die Verluste vom Juni weitgehend wettgemacht. Sie ist wieder alleine an der Macht. Zwischen dem 7. Juni und dem 1. No­vember sind Hunderte Menschen gestor­ben, ist der Friedensprozess mit der PKK auf der Strecke geblieben, hat sich die Spi­rale der Gewalt wild gedreht. Nun könnte alles besser werden, weil die Wähler den von Erdoğan festgestellten „Fehler“ ja kor­rigiert haben. Es wird aber nicht alles besser. Es wird nur wenig bis gar nichts bes­ser. Das Land bekommt eine mutmaßlich „stabile“ Regierung.

Politik der Kompromisslosigkeit hat sich ausgezahlt

Aber wofür wird diese Re­gierung stehen? Für Frie­den, Rechenschaftspflicht, Berechenbarkeit, Bekämpfung der Korruption? Die AKP hat ihre im Juni verlorenen Stim­­­men am rechten und na­tio­nali­stischen Rand wieder eingesammelt. Sie hatte die Stimmen bei der vorigen Wahl ver­loren, weil sie sich auf einen zaghaften Friedens­pro­zess mit der PKK eingelas­sen hat­te. Die Friedensdividende hatte bei der Juni-Wahl aber vor allem die HDP einge­stri­chen. Erdoğan und seine AKP bekommen nach Wochen der Gewalt nun die Kriegsdi­vi­dende. Die Politik der Kompromisslosigkeit und der eisernen Faust zahlt sich in Ab­geordnetensitzen aus. Die ganz Rechten und Ultra­nationalisten mussten vie­le Stimmen an die AKP abgeben, weil die AKP nach der Juni-Wahl nicht auf Frieden und Aus­gleich, sondern auf Konfrontation und Krieg gesetzt hatte. Die PKK hat ihren Beitrag zu diesem Wahnsinn geleistet.

Der Ausgang der Wahl verheißt Gutes – für jene, die den starken Führer Erdoğan und dessen Qualitäten schät­zen. Aber der Wahlaus­gang verheißt nichts Gutes für jene, die ihn ob seiner autokratischen Ten­den­zen und seinem Stre­ben nach Macht kritisieren und politisch bekämpfen. Die innertürkischen Span­nun­gen dürften eher zu- als abnehmen.

Quelle

Deutschlandfunk, Reinhard Baumgarten, ARD-Korrespondent Istanbul, 2.11.2015

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Melita Sunjic: Zäune rechtlich nicht haltbar – Ö1-Mittagsjournal 31.10.15

Es gibt einen Riss zwischen der Politik und den Menschen in Europa. Den Europäern sind viel mehr Flüchtlinge zumutbar als es die Regierungen glauben. Das sagt Melita Sunjic, Sprecherin des UNHCR, des UNO-Flüchtlings-Hochkommissariates in der Ö1-Reihe „Im Journal zu Gast“. Gar nichts hält Sunjic von Grenzzäunen. Diese seien nicht nur sinnlos sondern auch rechtlich problematisch.

Zaun 1989 durchschnitten

Wie geht es weiter in der Flüchtlingskrise? Was hat der EU-Sondergipfel vergangenen Sonntag gebracht? Wie viele Menschen kommen noch, wie kann man sie unterbringen? Das UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der UNO, fordert dringend eine geordnete europäische Lösung, wie es heißt und eine Quote, nach der die Flüchtlinge innerhalb der EU aufgeteilt werden. Zäune, wie sie einige Länder derzeit überlegen und Ungarn schon gebaut hat, lehnt das UNHCR ab, sagt deren Sprecherin Melita Sunjic Zäune nützten den Ländern auch insofern nichts, als sie die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben haben. Laut dieser müssen sie jeden aufnehmen, der einen Asylantrag stellen möchte. Das sei rechtlich nicht haltbar und auf jeden Fall juristisch anfechtbar. Außerdem sei es paradox in diesem geeinten Europa, wo 1989 ein Alois Mock symbolisch den Grenzzaun zu Ungarn durchschnitten habe, jetzt neue Zäune aufzubauen. Das sei nicht ein Europa, in dem wir leben wollen, sagt Sunjic.

Eine Art Durchfluss stellt das UNHCR aktuell fest, was den Nachzug von Flüchtlingen auf der Balkan-Route anbelangt. Pro Tag gibt es 5.000 bis 6.000 Leute, die von Griechenland über Mazedonien, Serbien und schließlich nach Österreich kommen. Schätzungen, dass im Oktober die Zahl zurückgehen wird, haben sich nicht bewahrheitet, allerdings gibt es aktuell einen leichten Rückgang, weil die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland immer gefährlicher wird.

Welle der Solidarität

Die EU hat zuletzt beschlossen, 100.000 Transit-Quartiere entlang der Balkan-Route zur Verfügung zu stellen, das werde die Situation entschärfen, ist Sunjic überzeugt. Auch in Griechenland werden 5.000 Auffangquartiere für einen längeren Aufenthalt geschaffen, um herauszufinden, wo sie in Europa untergebracht werden können. Das UNHCR drängt darauf, dass sich die Staaten, wie zuletzt beim Gipfel in Brüssel, mehr miteinander koordinieren in der Flüchtlingsfrage. Das Problem sei ein internationales. Die Menschen hätten auf jeden Fall ein Recht auf ein geordnetes Asylverfahren.

Positiv erwähnt Sunjic die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung der verschiedenen Länder, eine Welle der Solidarität. Ohne diese sei die Arbeit des UNHCR heute gar nicht möglich. Zwischen der Politik und den Menschen in Europa gebe es einen Riss. Den Europäern seien viel mehr Flüchtlinge zumutbar als es die Regierungen glauben. Umgelegt auf Österreich heißt das, dass 7 bis 8 Prozent aller Flüchtlinge in Österreich einen Asylantrag stellen. In der Bevölkerungsrelation zwischen Deutschland und Österreich sei das gar nicht so schlecht. Und Sunjic ruft in Erinnerung, dass es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einem darniederliegenden Europa 30 Millionen Flüchtlinge gegeben habe. Es sei deshalb nicht vorstellbar, dass heute 500.000 Menschen Europa ins Wanken bringen sollten.

Kritik übt Sunjic an der finanziellen Ausstattung des UNHCR, um seiner Hilfsaufgabe gerecht zu werden. So etwa hätte man das Budget bis April auf die Zeit bis Oktober strecken müssen, was zur Folge hatte, dass in den Grenzländern zu Syrien keine ordentliche Versorgung der Menschen mehr möglich war mit den bekannten Folgen.

Und schließlich befragt zu dem, was in den nächsten Wochen und Monaten passieren wird, sagt die UNHCR-Sprecherin, niemand traue sich mehr eine Prognose abzugeben. Alle Prognosen hätten sich bisher als falsch oder ungenau herausgestellt. Denn viele Leute sagen, es ist besser der Regen oder der Schnee fällt mir auf den Kopf, als Bomben.

Quelle

oe1.ORF.at Politik, Mittagsjournal, 31.10.2015,  Barbara Gansfuß-Kojetinsky

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