Das ‚Brexit‘-Referendum aus Schweizer und US-amerikanischer Sicht

Am 23. Juni 2016 votierten 52 % (bei einer Beteiligung von 72 %) für den Austritt Großbritanniens aus der EU. Zwei Politiker, die sich für diesen sogenannten Brexit stark machten – Nigel Farage und Boris Johnson – traten daraufhin von der politischen Bühne ab. Boris Johnson betrat diese jüngst als Außenminister im Regierungsteam von Theresa May, die dem zurückgetretenen David Cameron als Tory-Parteivorsitzende nachfolgt, wieder. David Cameron gilt nunmehr als  Zocker, der aus innerparteilichen Machterhaltserwägungen das Votum in Aussicht gestellt und schließlich durchgeführt hat. Es heißt, der Ausgang sei für ihn selbst überraschend und nicht gewollt.

Theresa May, eine selbst erklärte Gegnerin des ‚Brexit‘, wird diesen nun umsetzen. Die EU wartet auf Großbritanniens Austrittsantrag gemäß Artikel 50 des EU-Vertrages.

Soweit einige bekannte Tatsachen.

‚Brexit‘-Referendum unter nervöser Beobachtung

Das ‚Brexit‘-Referendum war bereits im Vorfeld im nervösen internationalen Fokus und so ist auch sein Ergebnis Stoff für Debatten und Prognosen weltweit. Nationalistische Bewegungen in europäischen Staaten träumen hörbar von eigenen Abstimmungen für Austritte aus der EU. Sinnige Wortschöpfungen wie Nexit und Auxit haben nicht in Notizheftchen von Kabarettisten das Licht der Geisteswelt erblickt, sondern in Redaktionen und Parteizentralen und zeugen von lauten, meist populistischen Forderungen. Die Zerrissenheit innerhalb des Königreiches wird einmal mehr sichtbar. Schottland, Nordirland  und Gibraltar stimmten für den Verbleib in der EU, England und Wales für den Austritt. Die Konsequenzen des Austittes Großbritaniens aus der EU für die EU sind aktuell unvorhersehbar.

Was die Rezeption des ‚Brexit‘-Referendums von anderen Referenden und Wahlen unterscheidet ist die Tatsache, dass es eine grundsätzliche Diskussion über das Wesen direktdemokratischer Prozesse ausgelöst hat. Das Spektrum der Kommentare und Analysen reicht von gefährlich bis alles nicht so schlimm. Im Folgenden seien zwei Positionen zitiert – eine aus der Schweiz, dem Land mit der wahrscheinlich größten Erfahrung in direkter Demokratie, eine aus den USA.

Zehntausende von Brexit-Gegnern gingen auf die Londoner Strassen. Der undemokratisch von oben eingefädelte Volksentscheid stellt Grossbritannien vor eine grosse Zerreissprobe. (Reuters)
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Fingerzeig für Verbesserungen oder russisches Roulette?

Bruno Kaufmann schreibt am 7. Juli in swissinfo.ch

Schwierige Volksentscheide sind keine Katastrophe. Vielmehr dienen solche als Fingerzeig, wo in einem politischen System Bedarf für demokratische Nachbesserungen herrscht.

Es sei gewarnt, eines einzelnen Abstimmungsergebnisses wegen die über Jahrhunderte gewachsenen politischen Strukturen in Frage zu stellen, zumal in emotional aufgeheizter Verfasstheit. Populisten fordern absolute Volkssouveränität, Post-Demokraten äußern Zweifel an der ausreichenden Informiertheit des Wahlvolkes und fordern Entscheidungseliten. Beides sei nicht geeignet, demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien wie Gewaltenteilung, Mehrheitsbeschlüsse bei gleichzeitigem Schutz von Minderheiten etc. zu garantieren. Kaufmann zieht einen Vergleich zum Fußball: „Nach der Entscheidung ist vor der Entscheidung.“ Jeder Volksentscheid ist nur ein vorläufiger. Was es braucht, um eine Entscheidung in eine mehrheitsfähige praktikable Realität zu führen ist Zeit. Kaufmann:

Bis die „Daily Mirror“-Schlagzeile „We’re out“ Realität wird, werden Jahre vergehen. Und es werden viele neue kleinere oder grössere Abstimmungen erforderlich sein.

Viele Abstimmung über Jahre hinweg inklusive Abstimmung im Unterhaus wären aus Sicht des US-Amerikaners Kenneth Rogoff der richtige Weg gewesen, im Vorfeld das ‚In or Out‘ Großbritanniens seriös und demokratisch aufzubereiten. In der Zeitung Boston Globe kritisiert er heftig, dass die Hürden für eine Entscheidung dieser Tragweite viel zu niedrig waren. Die meisten Gesellschaften, so Rogoff, machen es Ehepartnern schwerer, sich scheiden zu lassen.

Er führt vor Augen, dass bei 70 % Beteiligung und 52 % Out-Stimmen nur 36 % der Bevölkerung für den Austritt gestimmt haben. Dies hält er nicht für demokratisch sondern für russisches Roulette. Eine absolute Mehrheit sei für Referenden mit derart schwerwiegenden Konsequenzen notwendig, um Stabilität zu ermöglichen. Nun gilt es, nicht nur auf das Ergebnis sondern auch auf den Prozess des Austrittes mit Sorgfalt zu achten.

Quellen und links

Wie gefährlich ist direkte Demokratie? Bruno Kaufmann, swissinfo.ch, 7. Juli 2016

Britain’s democratic failure, Kenneth Rogoff, Boston Globe, 24. Juni 2016

Der Spiegel, Nr. 27, 2.7.2016

Über Referenden auf 1-sicht

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1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand