Krieg im Jemen: Rüstungsgüter aus EU-Ländern

Seit 2004 rebelliert die vom Iran unterstützte schiitische Huthi-Bewegung im Jemen immer wieder gegen Regierungstruppen. 2014 übernehmen die Huthis die Kontrolle über die Hauptstadt Sanaa. Am 15. Februar 2015 verurteilt der UN-Sicherheitsrat die Huthi-Angriffe (Resolution 2201). Im März 2015 beginnt eine von Saudi-Arabien angeführte Koalition der Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Sudan und Marokko militärisch gegen die Huthis vorzugehen. Der UN-Sicherheitsrat wiederholt die Verurteilung und Aufforderung zur Beilegung der Feindseligkeiten. LE MONDE diplomatique lenkt in der Ausgabe vom September 2019 im Artikel ‚Europäische Waffen für einen schmutzigen Krieg‘ die Aufmerksamkeit auf die von der Weltöffentlichkeit wenig beachteten Kampfhandlungen und ihre humanitären Folgen.

schlimmste humanitäre Krise des Planeten

24,1 Millionen von 28,5 Millionen Jemeniten sind auf Hilfe angewiesen, 14,3 von akuter Hungersnot bedroht. Bis Ende 2018 hat das Kriegsgeschehen im Jemen rund 60.000 Verletzte und 10.000 Tote gekostet sowie 4,8 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Im Februar 2018 warnte die UNO vor der ’schlimmsten humanitären Krise des Planeten‘. Laut NGOs greift die Koalition auch nicht-militärische Ziele an. Zum Beispiel wurde im April 2018 eine Hochzeitsfeier bombardiert (30 Tote, darunter 13 Kinder) und im Oktober 2016 eine Trauerfeier (140 Tote). Im August 2018 wurde ein Bus beschossen (51 Tote, darunter 40 Kinder).

Europäische Organisationen, die sich mit Rüstungskontrolle beschäftigen, kritisieren, dass die im Jemenkrieg eingesetzten Waffen aus den USA und Europa stammen. Zwar verpflichten der multilaterale Vertrag über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty, ATT) sowie der ‚Gemeinsame Standpunkt der EU zu Waffenausfuhren‘ die Unterzeichnerstaaten dazu, keine Rüstungsgüter zu exportieren, wenn „eindeutig das Risiko besteht“, dass diese eingesetzt werden, „um schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zu begehen“. Doch werden Angriffe und Morde an Zivilisten gerne als Kollateralschäden abgetan.

2017 genehmigten die EU-Länder Waffenexporte im Wert von über 17 Milliarden Euro für Saudi Arabien und 5 Milliarden Euro für die Vereinigten Arabischen Emirate. Frankreich hat 2018 Waffen im Wert von 1,4 Milliarden Euro an Saudi Arabien und Militärgüter im Wert von 237 Millionen Euro an die Vereinigten Arabischen Emirate geliefert. Die beiden kriegführenden Staaten beziehen von den Rüstungsunternehmen aus Frankreich, Deutschland und Großbritannien komplexe Systeme wie Kampfflugzeuge oder Schiffe. Technologisch einfachere Rüstungsgüter werden in Osteuropa bestellt.

Frankreich rechtfertigt die Waffenexporte einerseits damit, die Existenzfähigkeit und Unabhängigkeit der eigenen Verteidigungsindustrie zu erhalten (Ministerin Florence Parly, 7. Mai 2019), andererseits mit dem Hinweis, dass die Huthis ebenso Kriegsverbrechen begehen und täglich die Grenzen zum strategischen Partner Saudi Arabien verletzen (Abgeordneter Fabien Gouttefarde).

wie Waffenembargos umgangen werden

Erst nach dem Mord am Journalisten Kamal Khashoggi im saudischen Konsulat von Istanbul im Oktober 2018 reagierten einige Staaten (Österreich, Dänemark, Norwegen, die Niederlande, Finnland) mit Waffenembargos gegen Saudi Arabien. Für Deutschland erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass es keine Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien mehr gäbe, solange die Ermordung nicht aufgeklärt sei.

Diese Ankündigung betraf die gesamte europäische Rüstungsindustrie, denn Deutschland ist Zulieferer an zahlreiche Unternehmen. Dies ist eine Folge der Restriktionen nach dem Zweiten Weltkrieg. Es war Deutschland verboten, eine eigene Rüstungsindustrie aufzubauen. Man verlegte sich auf die Entwicklung von Einzelteilen, die für andere bestimmt sind. So finden sich zum Beispiel in von Großbritannien nach Saudi-Arabien exportierten Eurofightern Einzelteile aus deutscher Herkunft. Auf Druck aus Frankreich und England schränkte Deutschland das Embargo auf Rüstungsgüter ausschließlich deutscher Herkunft ein.

Deutsche Unternehmen umgehen das Embargo, indem sie über Tochterunternehmen in anderen Ländern ausführen. Die langfristige Strategie der Rüstungsunternehmen sieht vor, sich direkt in Saudi Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten anzusiedeln. Noch belegen die beiden Länder regelmäßig Spitzenplätze in den Ranglisten der Abnehmer von Rüstungsgütern. Bald werden sie die Ranglisten der Produzenten anführen.

Quellen und links

LE MONDE diplomatique, September 2019, Romain Mielcarek, ‚Europäische Waffen für einen schmutzigen Krieg‘

Militärinterventionen im Jemen, wikipedia

über die Republik Jemen, wikipedia

Gemeinsamer Standpunkt der EU für Rüstungsexporte

Waffentransfers, SIPRI-Jahrbuch 2018 auf 1-sicht

der unbeachtete Krieg im Jemen
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand

Politisch verursachte Hungerkatastrophen

Hungerkatastrophen sind mitnichten immer auf Naturereignisse wie Dürre oder Überschwemmungen zurückzuführen. Auch wenn dies Bilder aus Hungergebieten insinuieren.

Alex de Waal, geschäftsführender Direktor der World Peace Foundation, führt in der Le Monde diplomatique vom 10. August 2017 aus, dass die meisten aktuellen Hungersnöte auf politische Entscheidungen zurück gehen. Die 4 Hungerkrisen unserer Tage – jene im Jemen, im Südsudan, in Somalia und in Nigeria – haben ihre Ursachen in Kriegen.

Hungersnöte in Nigeria, Südsudan, Jemen, Somalia

In Nigeria verloren die Dörfer, die in den Krieg zwischen Boko Haram und Armee gerieten, ihre Besitztümer, Einkommensquellen und Nahrungsmittel. In Gegenden, aus denen das nigerianische  Militär Boko Haram vertrieben hat, verhungerten Tausende Menschen.

Im Südsudan kämpfen Regierungssoldaten und Rebellen mehr gegen die Zivilbevölkerung als gegeneinander. Hilfsorganisationen berichteten im Sommer 2016 von derart hohen Zahlen an Hungertoten, dass die UN-Kriterien für die Ausrufung einer Hungersnot erfüllt waren. Dennoch scheute die UN davor zurück, um die Regierung des Südsudan nicht vor den Kopf zu stoßen. Erst im Februar 2017 erklärte die UN Teile des Südsudan zur Hungerregion.

Im Jemen spielt sich die derzeit größte Katastrophe ab. Vor dem Krieg importierte das Land 80% seiner Nahrungsmittel. Nachdem der Hafen al-Hudaida, über den der Import in erster Linie abgewickelt worden war, von saudischen Bombardements zerstört wurde, verläuft die Entladung der Frachtschiffe umständlich und zeitraubend. Zudem muss das vom UN-Sicherheitsrat gegen den Jemen verhängte Embargo kontrolliert werden. Nahrungsmittel sind zwar vom Embargo ausgenommen, die Kontrollen verzögern deren Import jedoch. Straßen, Brücken und Markthallen sind zerstört worden, Zufahrtsstraßen werden blockiert – Nahrungsmittel gelten als stärkste Kriegswaffe, Unterernährung ist die häufigste Todesursache. 70% der 30 Millionen EinwohnerInnen sind von der Hungersnot betroffen.

Im Süden Somalias ist die Hungerkatastrophe zum Teil auf Dürre zurückzuführen. Der Krieg zwischen einer Koalition nordostafrikanischer Armeen und der Al-Shabaa-Miliz spielt ebenfalls eine erhebliche Rolle, da keine staatliche Hilfe organisiert werden konnte. Im benachbarten Äthiopien führte die viel längere Dürreperiode 2016 dank schneller Reaktion der Regierung nicht zu einer Hungerkatastrophe. Verschärfend wirkte in Somalia die Einschränkung humanitärer Hilfsaktionen durch die USA, basierend auf dem Patriot Act, der die Unterstützung von Gruppen, die auf der US-Terrorliste stehen, kriminalisiert. Wird nun eine Lkw einer Hilfsorganisation von einer Terrororganisation entführt, könnte dies gemäß Patriot Act der Hilfsorganisation als Terrorunterstützung angelastet werden.

Gezielte Strategie des Aushungerns

Die World Peace Foundation WPF erfasste jene 61 Fälle seit 1870, in denen mehr als 100 000 Menschen einer Hungersnot bzw. einer gezielten Strategie des Aushungerns zum Opfer fielen – insgesamt mindestens 105 Millionen Tote, davon zwei Drittel in Asien, 20% in Europa und UDSSR und unter 10% in Afrika. Dazu zählen die Hungerkatastrophen

  • in den USA zwischen 1880 und 1900
  • während des Ersten Weltkrieges im Nahen Osten (darunter 1 Million tote Armenier)
  • im russischen Bürgerkrieg von 1918 bis 1922
  • in der Ukraine von 1932 bis 1934 (Stalins ‚Homodor‘ = Tötung durch Hunger)
  • in der Sowjetunion während des NS-Regimes (‚Hungerplan‘)
  • während des Chinesischen Bürgerkrieges von 1927 bis 1949
  • im Zweiten Weltkrieg von Japan angeordnet
  • in China von 1958 bis 1962 im Zuge von Maos ‚Großem Sprung nach vorn‘ (mit mindestens 25 Millionen Toten die größte Hungerkatastrophe)

Aushungern gilt nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Wiewohl Hunger zum Beispiel für die Nationalsozialisten das wirksamste Instrument des Massenmordes darstellte, gilt Aushungern bislang nicht als Verbrechen gegen die Menschlickeit. Selbst in der Genozidforschung findet diese Tötungsstrategie kaum Beachtung.

Die ‚Hungerpläne‘ des NS-Regimes arbeitete der Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft aus. ‚Überflüssige Esser‘ im europäischen Teil der Sowjetunion  – 30 Millionen Menschen – sollten dem Hungertod preisgegeben werden. Der erste Schritt betraf die sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen in vier Monaten 1,3 Millionen und bis zum Ende des Krieges 2,5 Millionen starben. Im belagerten Leningrad verhungerten 1 Million Menschen, Hunderttausende starben in Kiew, Charkow und anderen Städten. Zwar wurde der Plan ’nur zu einem Drittel erfüllt‘, doch mit 10 Millionen Toten kann von einem Verbrechen gesprochen werden, das zahlenmäßig mit der ‚Endlösung der Judenfrage‘ vergleichbar ist. Herbeigeführter Hungertod war auch Instrumentarium des Holocaust. Im Warschauer Getto verhungerten 80 000 Juden, im Vernichtungslager Ausschwitz starben 500 000 Menschen an Hunger oder hungerbedingten Krankheiten – zusätzlich zu den direkt ermordeten Opfern.

Doch im Zuge der Nürnberger Prozesse (Wilhelmstraßen-Prozess) wurden erzwungene Hungersnöte nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert. Weder hatten die Alliierten daran ein Interesse – es hätte für ihre eigenen Seeblockaden unangenehme Folgen gezeitigt – noch enthielt das damals gültige Kriegsvölkerrecht ein Verbot, Städte, Regionen in Verfolgung militärischer Ziele auszuhungern. Die Hungerstrategien wurden daher lediglich im Rahmen anderer Anklagepunkte verhandelt.

Lücke im Völkerrecht

Zwar wurde 1977 die Genfer Konvention von 1949 durch ein Zusatzprotokoll ergänzt, das besagt: ‚Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegsführung ist verboten‘ (Artikel 54, Absatz 1). Doch dessen Anwendung ist stark eingegrenzt. Es gilt nur im Zuge internationaler Konflikte, nicht bei Bürgerkriegen. Außerdem sind Abweichungen erlaubt, ‚wenn eine zwingende militärische Notwendigkeit dies erfordert‘.

Daher gelang es nicht, gegen das 1991 gestürzte Militärregime Äthiopens, das Teile der eigenen Bevölkerung ausgehungert hatte, Anklage zu erheben.

Auch im Falle Kambodschas Pol-Pot-Regimes, unter dessen Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 über 1 Million Menschen verhungerten, handelte das Sondertribunal 2006 das Verbrechen des Aushungerns im Rahmen anderer Anklagepunkte ab.

Alex de Waal appelliert an die Verfechter humanitärer Operationen, sich dafür einzusetzen, dass Aushungern explizit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt. Denn die gravierendste Folge von Hungersnöten ist die Emigration. Mit all den Folgen ihrerseits.

Quellen und links

Le Monde diplomatique, Alex de Waal, 10.8.2017: Hunger als Kriegswaffe

Le Monde diplomatique, Laurent Bonnefoy, 7.12.2017: Kalkül und Katastrophe im Jemen

1-sicht, 3.4.2017: Hungersnot im Südsudan – 4,9 Millionen Menschen hungern

Es macht keine Freude, über Hungerkatastrophen zu lesen
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand