Über Herausforderungen und Chancen der aktuellen Migrationen – Beitrag 2

Teil 2 aus 3 zum Diskursbeitrag über Migrationen (Dossier ‚Was tun?‘ des Philosophie Magazins vom Februar 2016). 1-sicht-Beitrag 1 befasste sich mit ‚Unsere Verantwortung‘. Nun ist ‚Wer sind wir?‘ das Thema. Es folgt in Teil 3 ‚Wie schaffen wir das?‘

Wer sind wir?

Was wäre deutsch?

Ist eine klar konturierte, selbstbewusst vertretene Landesidentität ein Vorteil oder ein Nachteil für die Integration von Neuankömmlingen?

Zwei Antworten sind aus der Migrationsforschung bekannt:

  1. Festigkeit der Identität des Aufnahmelandes, die durch Forderungen an Neuankömmlinge gesichert wird. Integration wird dabei oft als Assimilation verstanden.
  2. Identitätsbildung ist Aushandlungsprozess zwischen Aufnahmeland und Neuankömmlingen. Der dialogische Zugang erleichtert Integrations, erschwert hingegen die Identitätsbildung.

Eine Kompromissvariante für Deutschland könnte Integration in Form eines dialogischen Aushandlungsprozesses zwischen starken staatlichen Institutionen und Neuankömmlingen sein.

Gunter Gebauer; emeritierter Professor der Freien Universität Berlin

Auf wen bezieht sich das Wort ‚wir‘ in Merkels Satz ‚Wir schaffen das?‘

‚Wir‘, das sind zunächst die Kanzlerin und ihr Kabinett, in der Folge sind alle Behörden, die Regierung und schließlich das Volk, das ja der Souverän ist, gemeint. Wobei sich nicht alle mitgemeint fühlen wollen oder können. Damit die Herausforderung geschafft werden kann, müssen zum ‚wir‘ auch jene Menschen mitgemeint sein, die als Flüchtlinge ankommen. Es gelte, sie nicht nur zu fragen, was sie im Moment benötigen, sondern auch, was sie küntig zum Gemeinwesen beitragen wollen und können.

Tilman Borsche, emeritierter Professor für Philosophie der Universität Hildesheim

Gibt es einen Kern der deutschen Identität?

Man ersetze das Postulat der Identität durch das Prinzip der Identifizierung. Und man begreife die Bedingungen der Gemeinschaftserfahrung als entwicklungsfähige Erzeugnisse. Produktive Teilhabe setzt Sprachen, setzt kommunikatives Handeln voraus. Jedes Erziehungssystem hat den Kernauftrag, die Ausdrucksmittel zu erhalten, weiterzuentwickeln und gegen die Unterwanderung von utilitaristisch vereinfachten Idiomen zu verteidigen.

Heinz Wismann; Philosophiehistoriker und Altphilologe an der EHESS in Paris

Die Anderen und wir

Stellt die Tatsache, dass 80 Prozent der Flüchtlinge (muslimische) Männer sind, aus feministischer Sicht eine besondere Herausforderung dar?

Die Leidenschaft der Araber lässt französischen Charme blass aussehen und reißt Frauen hin. So war es bei Blazac. Nun wird dieses Klischee in seiner negativen Seite vermittelt: Muslime sperren ihre Frauen unter Schleier weg und vergreifen sich an ‚unseren‘ Frauen. Die Sexualität des Orients: vielversprechend einerseits, bedrohlich andererseits. Dieser Diskurs sei Symptom von Kastrationsangst und Ausdruck eines wenig beflügelten Verhältnisses zwischen den Geschlechtern. Frauen sind respektiert, ihnen den Hof zu machen ist nicht mehr üblich. Es sei, als hätte man vergessen, dass die Geschlechter auf der Welt sind, um sich gegenseitig zu Gefallen zu sein. Sollte man auf den Frauenkult der Araber und Syrer hoffen? Und darauf, dass er altdeutsche Ängste bezwingt?

Barbara Vinken; Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München

Ist das Verhalten der Bundesregierung in der Flüchtlingskrise wie auch im Krieg gegen den IS Ausdruck eines neuen Bewusstseins der außenpolitischen Stärke?

Deutschland reagierte einem kollektiven moralischen Impuls folgend, wie es im internationalen Kontext häufig moralischen Argumenten Vorrang vor politisch-pragmatischen Gründen gibt. Dies mag mit dem – vermittelten – historischen Schuldgefühl zu tun haben. Hätte Deutschland politische Stärke gezeigt, hätte es an den Luftangriffen auf Syrien teilnehmen oder für eine pazifistische Lösung optieren müssen.

Hans Ulrich Gumbrecht,; Albert-Guèrard-Professor für Literatur an der Stanford University (USA)

Welche Faktoren lassen die Angst vor dem Fremden in einen Hass gegen den Fremden umschlagen?

Hass liegt nicht in Angst begründet, sondern in Erfahrungen von Degradierung, Ignorierung oder Sabotage an der eigenen Person; in einem verunsicherten, angegriffenen oder erschütterten Selbstwertgefühl. Der Hass richtet sich in der Regel gegen einen konzeptionellen Anderen, nicht gegen einen konkreten Anderen. Der Selbstwert wird durch gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit gestärkt.

Heinz Bude; Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel

Unverzichtbare Werte

Welche Werte sind zentral für die europäische Lebensform?

Die europäische Lebensform basiert auf

  • experimentell-mathematischer Naturwissenschaft und Technik
  • stoischem Kosmopolitismus und Menschenrechten
  • Gewalten teilendem Rechtsstaat mit Meinungs- und Religionsfreiheit
  • freier Kunst, die keinen religiösen oder politischen Zwecken dient
  • einem Bildungssystem, das nach der Entwicklung autonomer Persönlichkeiten strebt

Dies entspricht den Idealen der Aufklärung.

Diesen zuwider laufen

  • religiöse Überzeugungen, die die Wahrheit über die Welt und die Regeln des Zusammenlebens vermeintlich heiligen Texten entnehmen
  • die Idee, geoffenbarte Wahrheiten könnten durch Grausamkeiten verbreitet werden
  • ein Wirtschaftssystem, das Illusionen von Glück und Freiheit propagiert, um des Profits willen Unwahrheiten kommuniziert und Arbeiter grausam behandelt

Im 20. Jahrhundert haben die Menschen

  1. sich kollektiven Illusionen in den großen Ideologien hingegeben und zu deren Verteidigung unglaubliche Grausamkeiten begangen
  2. Unwahrheiten verbreitet und neue Grausamkeiten begangen, um militärische und wirtschaftliche Macht zu erhalten

Seit Sokrates (400 vor unserer Zeitrechnung) existiert die Idee eines aufgeklärten Lebens freier, friedlicher, wahrheitsliebender Menschen. Es sei Zeit, sie zu realisieren.

Michael Hampe; Professor für Philosophie an der ETH Zürich

Brauchen wir für einen erfolgreichen Integrationsprozess eine deutsche Leitkultur?

Zwei Positionen stehen einander gegenüber:
a) Assimilation als Bedingung von Integration
b) Vielfalt der Kulturen als Bereicherung

Der philosophische und politische Liberalismus fordern eine Entkoppelung von Politik und Kultur in Form einer autonomen politischen Sphäre, die allen unabhängig von Herkunft, Religion, kultureller Prägung zugänglich ist. Demokratie als Staats- und Lebensform beruht auf

  • Verfassungsnormen
  • rechtsstaatlicher Praxis
  • verbunden mit demokratischer Kontrolle
  • und einer rechtlichen, politischen, kulturellen Praxis der Nichtdiskriminierung .

Es bedarf einer alltäglichen praktizierten Leitkultur der Humanität, des wechselseitigen Respekts, der Akzeptanz von weltanschaulichen und kulturellen Unterschieden. Angesichts von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Antiislamismus sowie der Radikalisierung in vielen Ländern Europas und in den USA sei es möglicherweise die größte Integrationsleistung, den Antihumanismus eines wachsenden Teils der einheimischen Bevölkerung einzudämmen.

Julian Nida-Rümelin; Professor für politische Theorie und Philosophie an der Ludwig-Maximilian-Universität München

Sollte Gotteslästerung erlaubt sein, auch wenn sie Gläubige verletzt?

In einer Demokratie müsse das Recht zur Kritik über dem Recht, sich nicht beleidigt zu fühlen, stehen, andernfalls würde die Freiheit der Kritik ausgehöhlt. Der demokratische Staat muss einen laizistischen Charakter haben. Dass Gotteslästerung als Straftat gilt, dass es Steuersubventionen für Religionsgemeinschaften gibt und dass religiöse Symbole an öffentlichen Orten benutzt werden dürfen, steht im Konflikt dazu.

Paolo Flores d’Arcais; Professor für Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom

 

Quellen und links

Philosophie Magazin

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 1 auf 1-sicht

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 3 auf 1-sicht

Über Menschenrechte auf 1-sicht

Unsere Werte – Artikel 2 des EU-Bertrages. – Beitrag auf 1-sicht

1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand