Über Herausforderungen und Chancen der aktuellen Migrationen – Beitrag 3

1-sicht-Beitrag 3 von 3 zum Denkanstoß ‚Was tun?‘ des Philosophie Magazins vom Februar 2016. Nach ‚Unsere Verantwortung‘ und ‚Wer sind wir?‘ steht jetzt die Frage ‚Wie schaffen wir das?‘ im Raum. 

Links zu den ersten beiden Beiträgen sowie zu anderen 1-sichten im Kontext Migrationen sind am Ende des Artikels.

Wie schaffen wir das?

Grenzen der Toleranz

Welches sind die wichtigsten Aspekte für gelingende Integration?

Der Mensch ist ein tätiges Wesen. Man lebt durch Tätigsein, was nicht gleichbedeutend ist mit Lohnarbeit. Auch Menschen, die um Asyl in einem Land ansuchen, müssen zum Einen die Möglichkeit, zum Anderen die Pflicht zum Tätigsein haben. Der Beginn ist im Asylheim, wo Aufräum- und Reinigungsarbeiten etc. anstehen. Dies müsse den Menschen vom ersten Tag ihres Lebens im neuen Land klar vermittelt werden. Menschen bis zu 17 Monate nichts tun lassen, sie stillstellen, hindere die Entfaltung der Selbstorganisation und die Integration.

Rupert Neudeck; Philosoph, Begründer des Hilfskomitess Cap Anamur

Gibt es religiöse Eigenheiten, die ein demokratischer Rechtsstaat nicht tolerieren sollte?

Menschenrechte und Grundnormen der Gerechtigkeit markieren die Grenzen der Toleranz. Es reicht nicht, dass Handlungsweisen von einer Mehrheit als falsch bewertet werden oder als gegen die ‚Hausordnung‘ empfunden werden, um diese zu verbieten. Die Grenzen der Toleranz sind erreicht, wenn Grundrechte verletzt werden, z.B. wenn einem kranken Kind Zugang zu lebensrettender Bluttransfusion verwehrt wird, wenn Beschneidungen Mädchen schwerwiegend schädigen, wenn Frauen der Zugang zu Bildung verwehrt wird.

Rainer Forst; Professor für Politische Theorie und Philosophie am Institut für Politikwissenschaft sowie im Institut für Philosophie der Johann Wolfgang von Goethe-Universität

Gibt es eine Verbindung zwischen dem Islamismus und dem Islam und worin liegen die Gründe für den Aufschwung des Fundamentalismus in der muslimischen Welt?

Islamismus verfolgt politische Ziele, ist eine Ideologie. Islam ist ein religiöser Glaube, eine intellektuelle Tradition, ein spirituelles Erbe. Wer zum ‚Krieg gegen den Islam‘ ruft, verfolgt ebenfalls politische Ziele. Islamismus habe keine Kontinuität zum Islam, vielmehr stelle er einen Bruch dar. Wer vom radikalen Islam spricht, unterstellt eine Verbindung von Islam und Extremismus. Doch bei Religionen gehe es um den Glauben, um das Menschlich-Werden, das Begreifen der gemeinsamen Menschlichkeit. Sich um angemessene und zutreffende Benennungen zu sorgen, hat zum Ziel, den Kräften der Negation die Affirmation der Menschlichkeit entgegenzusetzen.

Souleymane Bachir Diagne; Professor an der Columbia Universität, New York

Gefahren als Chancen

Wie ist der Sorge der jüdischen Gemeinden zu begegnen, die Ankunft der meist muslimischen Flüchtlinge werde den Antisemitismus hierzulande verschärfen?

Arabische Diktaturen setzen auf die Außenfeinde Staat Israel und Juden. Zugleich gilt vielen oppositionellen Israelis die Bezeichnung ‚Faschist‘ als angemessen für manche Regierungsmitglieder. Verhärtete Fronten ohne Aussicht auf Lösung. Im 3. Buch der Thora heißt es: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“ Dieses Gebot ist Grundlage für den Einsatz vieler Juden, Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in jüdischen Gemeinden aufzunehmen. Eine Willkommenskultur könnte den Kreislauf von Furcht und Hass zwischen der jüdischen und der muslimischen Welt durchbrechen. Zumal jene, deren Vorfahren selbst Vertriebene waren, eine besondere Sensibilität für das Leid von vor Krieg und Fanatismus fliehenden Menschen haben sollten. Deutschlands Verantwortung im Kampf gegen den Antisemitismus müsse den jetzt Geflüchteten erkennbar gemacht und der Einsatz für eine Lösung des Nahostkonfliktes seitens Deutschland verstärkt werden.

Susan Neimann; Direktorin des Einstein Forums in Potsdam

Wie lässt sich Neid auf Flüchtlinge vermeiden?

Wer unter prekären Beschäftigungsverhältnissen leben muss, fühlt sich zu Recht vernachlässigt. Neben den wirklichen Benachteiligungen kommen die eingebildeten zum Tragen. Ein Großteil der ansässigen Bevölkerung hat etwas verloren, was die Neuankommenden mitbringen: Die Hoffnung, dass es ihnen und dereinst ihren Kindern besser gehen wird. Die Hoffnungslosen haben das Gefühl, ihr Verlust an Hoffnung wäre die Schuld der Hoffnungsvollen. Es brauche also für alle positive Perspektiven, neben humanitären Appellen einen Plan für die Gesamtbevölkerung und eine ‚große Erzählung‘, in der alle ihre Möglichkeiten finden, sodass das vermeintliche Glück des anderen als eigener Vorteil und etwas Teilbares erfahren werden kann.

Robert Pfaller; Professor für Philosophie an der Kunstuniversität Linz

Wie bekämpft man religiösen Fanatismus innerhalb der eigenen Landesgrenzen?

Etwas, was unvorstellbar schien, ist geschehen: der religiöse Fanatismus ist in Deutschland angekommen. Muslime wie Nicht-Muslime hätten durch Ausgrenzungsdebatten gegen ‚den Islam‘ dazu beigetragen. Muslime, die ein zeitgemäßes Islamverständnis etablieren wollen, mögen sich gesellschaftlich und theologisch stärker engagieren. Insgesamt brauche es eine Steigerung der Demokratiefähigkeit und eine aufgeklärte, zur Differenzierung fähige Gesellschaft.

Lamya Kaddor; muslimische Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin, Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes

Deutschland, Zukunftsland?

Welches sind die Erfolgsindikatoren, die uns in 20 Jahren sagen lassen können: „Ja, wir haben das geschafft“?

Man wird nicht merken, ob die Integration erfolgreich gewesen sein wird. Denn wenn Einwanderung erfolgreich funktioniert, spielen Herkunft und Migrationsgeschichte keine Rolle, sind sie kein Thema. Genauso wenig wie die Aufhebung des Demografieproblems durch die Zuwanderung überwiegend junger Menschen. Es wäre nunmehr an der Zeit, Gesellschaften und ihre Entwicklungen als nicht-linear zu begreifen und Gestaltwandel und unerwartete Geschehen nicht als ‚Krise‘ zu deuten. Dies würde Demokratien widerstandsfähiger machen.

Harald Welzer; Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg

Worin liegt die größte Chance der derzeitigen Zuwanderung und wie wäre sie zu nutzen?

Die größte Chance liege darin, dass Europa ehrlich würde und eingesteht, jahrzehntelang auf Kosten derer gelebt zu haben, die nun wandern. Es wurden Konflikte verschleppt bzw. durch Waffenlieferungen zum Eskalieren gebracht (Afrika, Mittlerer Osten, Balkan). Man hat sich mit Diktatoren arrangiert und die Erderwärmung geschehen lassen. Die Weltgesellschaft jedoch ist keine Einbahnstraße, Staatsgrenzen halten weder Touristen noch Geschäftsleute noch die Verlierer auf. Masseneinwanderung in die EU sei nun Realität, das Leben auf der ‚ethnisch und (a)religiös homogenen Wohlstandsinsel‘ vorbei. Europa habe die Chance, aus seiner Müdigkeit und Zerrissenheit heraus zu treten.

Claus Leggewie; Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen

Lässt sich die Empathiewelle der ersten Monate über Jahre stabilisieren, oder muss sie notwendig ermüden?

Bei Langzeitsituationen neigt der Mensch zur Empathiknausrigkeit. Er hilft in spontaner Not und möchte den schnellen Erfolg sehen. In Abgrenzung zur empathisch motivierten Handlung ist die Hilfeleistung zu sehen, die aus der Identifikation mit Helfervorbildern rührt. Diese Identifikation mit moralischen Helden erlahmt rascher als Empathie. Es sei aktuell die Chance, echte Empathie aufzubauen, wofür beispielsweise die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg zu erschöpft waren.

Fritz Breithaupt; Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft und affilierter Professor für Kognitionswissenschaften an der Indiana University in Bloomington (USA)

Quellen und links

Philosophie Magazin

Über Menschenrechte auf 1-sicht

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 1 auf 1-sicht

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 2 auf 1-sicht

Was zeichnet eine offene Gesellschaft aus? – Beitrag auf 1-sicht

Achtet auf die Worte. Vom Flüchtlingsstrom und anderem Metaphern mit fragwürdigem Unterton – Beitrag auf 1-sicht

Über Zaatari in Jordanien: Flüchtlingslager? Flüchtlingsstadt? – Reportage ‚Neuland‘ auf NZZ.at

1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand