Über Herausforderungen und Chancen der aktuellen Migrationen – Beitrag 1

Zu den Flucht- und Wanderbewegungen sind bereits einige 1-sichten online. Diese und 2 folgende betrachten das Phänomen aus philosophischen Perspektiven.

Im Dossier ‚Was tun?‘ des Philosophie Magazins vom Februar 2016 kommen 27 Frauen und Männer – aus Philosophie, Soziologie, Rechtswissenschaft und anderen Professionen – zu zentralen Fragen des Flüchtlingsmanagements zu Wort. Man geht auf Ängste und Sorgen, die im Zusammenhang mit den Migrationen auftreten, ein und will die Gestaltungskraft beflügeln.

Die Wanderbewegung des Jahres 2015 (60 Millionen Flüchtlinge weltweit) wird als Anfang eingestuft, angesichts der hohen Zahl Wanderungswilliger könnte die Unterscheidung in Kriegs-, Wirtschafts- und Klimaflüchtlinge rein akademisch wirken. Die sogenannte Flüchtlingskrise löste in der Bevölkerung eine Dynamik in 2 Richtungen aus: hier tätige Solidarität, außerordentliche Spenden- und Hilfsbereitschaft, da die Verdoppelung fremdenfeindlicher Anschläge binnen 1 Jahres und erhöhter Zuspruch zu rechtspopulistischen Parteien.

Wolfram Eilenberger ermuntert in der Einleitung dazu, der Komplexität und Dynamik damit zu begegnen, die eigene Perplexität einzugestehen und sich zu erlauben, Fragen zu stellen. Mit dem Dossier wird ein Beitrag geleistet. Folgende Themen sind aufgeworfen:

  1. Unsere Verantwortung
  2. Wer sind wir?
  3. Wie schaffen wir das?

Zu diesen Themen sind jeweils konkrete Fragen gestellt. 1-sicht greift die – subjektiv – wesentlichsten Aspekte aus den Antworten auf und fasst sie in 3 Blogbeiträgen als Erweiterung bisheriger 1-sichten zum Phänomen Migrationen zusammen. Dieser Beitrag widmet sich dem ersten Thema:

Unsere Verantwortung

Im Angesicht des Leids

Ist das Konzept einer ‚globalen Verantwortung‘ notwendig eine Überforderung?

Verantwortung im Sinne einer klaren individuellen Zurechnung von Handlungsfolgen wird zur Überforderung, wenn sie global gemeint ist. Jedoch ist es geboten, sich mit Schicksalen anderer Menschen in fernen Regionen verbunden zu fühlen. Andernfalls wäre eine innere Verhärtung die Folge. Daraus resultierte eine Veränderung des eigenen Wertesystems und in der Folge eine Vereinzelung der Person. Hingegen lässt Verbundenheit zu, sich als Teil eines lebendigen Geschehens zu verstehen. Daraus erwächst Motivation (nicht nur abstrakte Verpflichtung) für ein Handeln, das globale Zusammenhänge mit einschließt.

Hartmut Rosa; Professor für Philosophie an der Universität Jena

Sollen wir uns in unserer Haltung gegenüber den Flüchtlingen eher von rationalen Überlegungen oder von Gefühlen leiten lassen?

Verstand und Gefühl müssen sprechen, um die Welt deuten zu können. Im Falle der nach Europa wollenden Flüchtlinge könnte das heißen, das Gefühl setzt den Impuls zu helfen – zumal wenn die eigene Biografie Fluchterfahrungen enthält, und der Verstand sieht in den Ankommenden neue Freunde oder billige Arbeitskräfte. Jedenfalls sind Grenzen zu beachten: ‚Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet.‘ (lat.: Ultra posse nemo obligatur.) Geschieht dies nicht, ist niemandem geholfen. Daher gilt es, die Migrationen rechtsstaatlich zu kontrollieren und zu begrenzen und den Ankommenden Lebens- und Zukunftschancen zu eröffnen.

Volker Gerhardt; Lehrstuhl für praktische Philosophie (emeritiert 2012) an der Berliner Humboldt Universität

Was sind die entscheidenden Faktoren dafür, dass wir Empathie mit Flüchtlingen empfinden?

Man ist zur Empathie fähig, wenn:

  • Die oder der andere ein ähnliches Wesen ist.
  • Deren oder dessen Situation muss anschaulich, ‚nah‘ sein.
  • Es sein könnte, dass man selbst ein dieselbe Situation kommt.

Empathie wird kultiviert durch:

  • gezielten Fokus auf Gemeinsamkeiten
  • Die Vorstellung, allein glücklichen Umständen verdanke man es, selbst in einer besseren Situation zu sein
  • Vergleichbare Erfahrungen nahestehender Menschen
  • Eigene vergleichbare Erfahrungen

Für das eigene Handeln braucht es neben der Empathie eine gefühlsbetonte Vision davon, wie viel besser es dem Mitmenschen gehen könnte.

Hilge Landweer; Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin

Von der Schuld zur Pflicht

Hat Deutschland im Rahmen der Flüchtlingskrise eine besondere historisch bedingte Verantwortung?

Die Erinnerung an die NS-Zeit weist auch in die Zukunft. Der Ermordung der Juden und anderer ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen ging ein kollektives Aussetzen von Mitgefühl voran, das gespeist wurde von der Etikettierung dieser Menschen als fremd, radikal anders und daher als Bedrohung. Viele Deutsche achten daher aktuell auf das Gemeinsame. Und sie stellen sich die Frage, zu was für einer Nation man gehören möchte: ‚zu einer, die verzweifelte Menschen abweist, oder einer, die mit ihnen die gemeinsame Aufgabe einer neuen Zukunft angeht?‘

Aleida Assmann; Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz

Hat die moralische Verpflichtung, Geflüchtete aufzunehmen, Grenzen oder handelt es sich um eine absolute Pflicht?

Nach streng moralischer Argumentation kann es keine Grenzen geben. Vielmehr müsse man sich bewusst machen, dass in immer mehr Staaten die extreme Gewalt zunimmt (Syrien, Libyen, Irak). Die Zustimmung oder Ablehnung, Menschen aufzunehmen kommt in der Macht über Leben und Tod gleich. Der politische Wille, Geflüchtete zurückzuweisen, kommt der Billigung von Mord gleich. Auch verstößt es gegen die Menschenwürde, das ‚Minimum menschlicher Existenz‘ (Hannah Arendt) nicht zu gewähren. Menschliche Beziehungen seien prinzipiell auf die Pflicht zu Fürsorge, Hilfe und Rücksicht überall und für alle begründte.

Marc Crépon; Direktor des Centre national de la recherche scientifique in Paris

Ist die Flüchtlingskrise eine direkte Folge des globalen Kapitalismus

Ja, denn ein wirtschaftliches Zentrum lebt auf Kosten einer rohstoffliefernden Peripherie. Die conditio sine qua non für das Aufrechterhalten des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist die gewaltsame Aufrechthaltung dieser Ungleichheit. Die Distinguierung in Kriegs-, Wirtschafts-, Klimaflüchtlinge ist irrelevant, weil derzeit alles auf das derzeitige kapitalistische System zurückzuführen ist. Kriegsflüchtlinge sind Opfer einer bellizistischen Wirtschaftspolitik, Wirtschaftsflüchtlinge Opfer einer Durchsetzung geopolitischer Interessen mit ‚nur‘ ökonomischen Mitteln.

Armen Avanessian; Literaturwissenschafter, Philosoph, Gastprofessor an verschiedenen Kunstakademien

Unbedingte Solidarität?

Ist der Schutz der eigenen Bevölkerung vor einem Anschlag ein legitimes Argument, um Flüchtlingsrechte einzuschränken?

Die Frage beinhaltet rechtsstaatlich betrachtet 5 Einzelfragen:

  1. Reicht die statistische Annahme, unter Hunderttausenden Flüchtlingen befinden sich Terrorbereite oder muss sich der Verdacht gegen konkrete Menschen richten?
  2. Darf der Staat allenfalls die Rechte aller Flüchtlinge einschränken oder lediglich der Verdächtigen?
  3. Dürften Einschränkungen sich nur gegen bereits im Inland befindliche Flüchtlinge richten oder könnte eine Begrenzung des Zuzuges erfolgen?
  4. Wie ‚dicht‘ müsste das Risiko sein?
  5. Welche Dimension müsste das schlagend werdende Risiko haben?

Um vernünftige Antworten zu finden, sind 3 Prämissen zu beachten:

  1. Staaten haben das Recht und die Pflicht, die Bevölkerung zu schützen.
  2. Diese Pflicht beinhaltet das Recht, hinreichend verdächtige Personen entsprechenden polizeilichen Maßnahmen der Prävention zu unterwerfen bzw. ihnen den Zutritt ins Land zu verwehren.
  3. Anzunehmen, dass unter Hundertausenden Menschen aus Herkunftsländern des internationalen Terrors kein einziger mit Neigung zu terroristischen Aktionen ist, wäre verantwortungslos.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Antworten:

Die statistische Annahme eines Anschlages reicht nicht aus, die Rechte aller Flüchtlinge einzuschränken oder Migranten den Zutritt zu verwehren. Dies würde bedeuten, dass die von Einzelnen ausgehende Gefahr, unzähligen anderen zugerechnet wird. Dies gilt selbst dann, wenn das Risiko als statistische Gewissheit bestimmt ist. Der Staat muss allerdings alle Flüchtlinge überprüfen, um seine Pflichten als Garant einer Normenordnung prinzipieller Freiheit zu erfüllen. Bei begründetem konkreten Verdacht darf die Person polizeilichen Maßnahmen unterworfen, gegebenenfalls abgeschoben oder nicht ins Land gelassen werden. Derartige Präventionsmaßnahmen sind angezeigt, wenn ein gravierender terroristischer Akt befürchtet wird, der geeignet ist, die Rolle des Staates als Garant des inneren Friedens zu diskreditieren.

Reinhard Merkel; Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg

Sind Staaten juristisch verplichtet, Flüchtlinge aufzunehmen?

Eine Juristische Pflicht zur Aufnahme besteht nicht, dies würde das Recht der Staaten auf nationale Selbstbestimmung gemäß Artikel 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte verletzen. Staaten haben die Pflicht, jeden Asylantrag angemessen und nachvollziehbar zu bearbeiten und im Falle der Bewilligung von Asyl den Menschen aufzunehmen oder den Transfer in ein sicheres Drittland gewährleisten. In der aktuellen Situation sei auf Kontingente hinzuarbeiten. Jene Staaten, die weniger Flüchtlinge aufzunehmen wünschen, sollten Transferzahlungen leisten.

David Miller; Professor für Social an Political Theory am Nuffield College in Oxford.

Wird der Gesamtnutzen aller Betroffenen dadurch optimiert, dass wir Geflüchtete aufnehmen – oder wäre es hilfreicher, sie vor Ort in den Lagern zu unterstützen?

Genau genommen bevorzugt die Genfer Flüchtlingskonvention jene, die sich die Ausreise ermöglichen können, gegenüber jenen, die sich diese nicht leisten können. Zudem habe die Konvention den Boom des oft skrupellosen und tödlichen Menschenschmuggels begünstigt. Eine praktikable Herangehensweise könnte sein, Flüchtlinge würden in einem dem Herkunftsland benachbarten Staat Asyl beantragen und dort in einem sicheren Camp – dank der Finanzhilfen reicherer Länder – versorgt werden.

Peter Singer; Professor für Bioethik am Center für Human Values der Princeton University.

 

Quellen und links

Philosophie Magazin

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 2 auf 1-sicht

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 3 auf 1-sicht

Über Menschenrechte auf 1-sicht

Europas nationalstaatliche Grenzen. Normalität und Notwendigkeit oder historischer Sonderfall? – Beitrag auf 1-sicht

Krieg in Syrien und kein Ende in Sicht. – Beitrag auf 1-sicht

Syriens Nachbarn und die Flüchtlinge. – Beitrag auf 1-sicht

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Aufnahmelager für Flüchtlinge; Bildquelle Le Monde Diplomatique 8. Oktober 2015
1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand