70,8 Millionen Menschen galten Ende 2018 als Flüchtlinge, Asylsuchende oder intern Vertriebene. Das waren doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor. (Quelle: Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, NZZ). Deutschland hatte 2018 rund 83 Millionen Einwohner, Frankreich rund 67 Millionen, Großbritannien rund 66 Millionen. Mehr Frauen, Männer und Kinder, als in Frankreich leben, waren 2018 auf der Flucht oder emigrierten.
Eine zynische Quizfrage könnte lauten: „Wer beherbergt weltweit die meisten Flüchtlinge? Bringen Sie die folgenden, alphabetisch gereihten Staaten in die entsprechende Reihenfolge:“
Asien und Pazifik
Europa
Naher Osten und Nordafrika
Nord- und Südamerika
Subsahara-Afrika
Türkei
Manche mag die richtige Antwort überraschen:
Subsahara-Afrika sind jene Länder, die ganz oder teilweise südlich der Sahara liegen. Dort leben insgesamt 920 Millionen Menschen und derzeit über 6,3 Millionen Flüchtlinge. Das sind mehr als als ein Viertel aller Flüchtlinge weltweit und mehr als doppelt so viele wie in Europa, wo 746 Millionen Menschen leben.
Uganda bietet 1,2 Millionen Flüchtlingen – die meisten aus den Nachbarstaaten – Schutz, der Sudan 1,1 Millionen und Äthiopien 903.000. Uganda und Sudan nahmen allein 2017 rund eine Million Flüchtlinge, die meisten davon aus dem Südsudan, auf. In vielen Ländern Afrikas übersteigt die Zahl der Immigranten jene der Emigranten (positiver Migrationssaldo). Das gilt für Südafrika (4 Millionen Zu-, 1 Million Auswanderer), Kenya, Äthiopien, Uganda und die Elfenbeinküste. Zu den Immigranten gehören Flüchtlinge und Arbeitssuchende aus den oft ärmeren Nachbarländern.
Laut UNHCR leben 80 Prozent aller Flüchtlinge in einem Nachbarstaat ihres Heimatlandes. Zwei Drittel der Flüchtlinge stammen aus lediglich fünf Ländern: Syrien, Afghanistan, Sudsudan, Burma, Somalia.
Asylsuchende, die nach Europa reisen
Aus welchen Ländern kommen die Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa reisen? In den ersten 8 Monaten des Jahres 2019 kamen rund 10.000 aus Afghanistan, über 6.000 aus Syrien.
2019 stammen rund zwei Drittel der afrikanischen Migranten in Europa aus Marokko, Kongo-Kinshasa, Mali, Elfenbeinküste und Guinea.
Migrationsabsichten
Laut einer weltweiten Gallup-Umfrage (2017) haben weltweit 14 Prozent der Menschen den Wunsch, zu emigrieren. In Subsahara-Afrika liegt der Prozentsatz bei 31, in Nordafrika inklusive Naher Osten bei 22, in Lateinamerika bei 23 und in europäischen Nicht-EU-Ländern bei 27 Prozent. Das afrikanische Meinungsforschungsinstitut Afrobarometer erhob 2018, dass 20 Prozent jener Afrikaner, die einen Emigrationswunsch hegen, Europa zum Ziel haben, 47 % ein anderes afrikanisches Land. Vor allem junge, gut ausgebildete Menschen wollen ihr Land verlassen.
Quellen und links
„Sitzt ein ganzer Kontinent auf gepackten Koffern? – Acht Antworten zur Migration aus Afrika“, NZZ, 20.9.2019
Im Jahr 1995 erscheint der Roman ‚Tortilla Curtain‘ – deutsch ‚América‘ – von T. C. Boyle. Die Schicksale einer Familie aus der weißen Mittelschicht und eines Paares aus Mexiko, das illegal eingewandert ist und obdachlos lebt, kreuzen sich immer wieder auf unglückselige Weise. Während die einen um ihren Besitz und zugleich um die Wahrung ihrer humanistischen Werte ringen, kämpfen die anderen täglich ums Überleben.
Ort der Handlung ist im und beim Topanga Canyon nahe Los Angeles im Bundesstaat Kalifornien. Aus dem nahen Tijuana jenseits der Grenze zu Mexiko (‚Tortilla Curtain‘) versuchten Mexikaner auf der Suche nach Lebensmöglichkeiten in die USA zu gelangen.
Das Buch – bei seinem Erscheinen umstritten – ist mittlerweile Schullektüre in den USA und war 2013 das Gratisbuch der Aktion „Eine Stadt. Ein Buch.“ der Stadt Wien.
im Magazin TIME, 1. Juli 2019 frei übersetzt von 1-sicht
Was sehen Sie vor Ihrem geistigen Auge, wenn Sie an Flüchtlinge denken? Wahrscheinlich niemanden europäischer Herkunft. Aber, wären Sie ein Kind des 2. Weltkrieges und fragten Ihre Eltern, was ein Flüchtling war, so würde man Ihnen europäische Menschen beschreiben.
Über 40 Millionen Menschen wurden damals aufgrund des Krieges heimatlos. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat (U.N. Refugee Agency, UNHCR) wurde ihretwegen gegründet. Das vergessen wir. Einige der Führungspersönlichkeiten, die in härtester Rhetorik gegen Flüchtlinge wettern, haben biografische Spuren in Staaten, die tragische Flüchtlingserfahrungen machten und denen durch die internationale Gemeinschaft geholfen wurde.
Beim ersten Anzeichen von bewaffneten Konflikten oder Verfolgung ist der natürliche menschliche Reflex, die Kinder von Bedrohung fernzuhalten. Von Bomben, Massenvergewaltigung oder Mördertruppen bedroht, raffen die Menschen das Wenige zusammen, das sie tragen können und suchen Sicherheit. Flüchtlinge sind Menschen die entschieden haben, einen Konflikt zu verlassen. Sie lotsen sich und ihre Familien durch den Krieg. Oft helfen sie, ihre Staaten wieder aufzubauen. Das sind Qualitäten, die zu bewundern sind.
Von der Pflicht, Flüchtlingen zu helfen
Warum dann hat das Wort ‚Flüchtling‘ in unserer Zeit eine solch negative Konnotation erhalten? Warum werden Politiker/innen gewählt, die versprechen, Grenzen zu schließen und Flüchtlinge zurück zu schicken?
Heute ist die Differenzierung zwischen Flüchtling und Migrant verschwommen und politisiert. Flüchtlinge sind aufgrund von Verfolgung, Krieg oder Gewalt gezwungen worden, ihre Länder zu verlassen. Migrantinnen und Migranten haben entschieden, woanders hinzuziehen, hauptsächlich um ihr Leben zu verbessern. Manche politischen Führer verwenden die beiden Begriffe absichtlich austauschbar und bedienen sich feindlicher Rhetorik, die Ängste gegen alle Außenseiter schürt.
Jeder verdient Würde und faire Behandlung, aber wir müssen uns der Unterscheidungen klar sein. Nach internationalem Recht ist es keine Möglichkeit, Flüchtlingen zu helfen, es ist eine Verpflichtung. Es ist möglich, strenge Grenzkontrollen, faire und humane Einwanderungspolitik und unsere Verantwortung, Flüchtlingen zu helfen, zu verbinden. Über die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit sind Kinder. 4 von 5 leben in Staaten, die an jene Konflikt- oder Krisenzone grenzen, aus der sie geflohen sind. Weniger als 1% der Flüchtlinge sind jemals ständig umgesiedelt, inklusive in westlichen Staaten.
Amerikas Großzügigkeit bedeutet, dass wir die meiste Hilfe leisten. Aber betrachten wir den Libanon, wo jede 6. Person ein Flüchtling ist. Oder Uganda, wo ein Drittel der Bevölkerung in extremer Armut lebt und die knappen Ressourcen mit über einer Million Flüchtlingen teilt. Weltweit tun jene Länder, die am wenigsten haben am meisten.
70 Millionen Vertriebene weltweit
Als ich vor 18 Jahren damit begann, für die U.N. Refugee Agency (UNHCR) tätig zu werden, gab es rund 40 Millionen gewaltsam vertriebene Menschen und die Hoffnung, dass die Anzahl zurück geht. Dem jüngsten UNHCR-Report zufolge beträgt die Anzahl der gewaltsam vertriebenen Menschen mittlerweile über 70 Millionen und ist rasch steigend. Von Myanmar bis Südsudan scheitern wir, Konflikte zu lösen und den Menschen eine Rückkehr zu ermöglichen. Und wir erwarten, dass die U.N. irgendwie mit dem resultierenden menschlichen Chaos fertig wird.
In der ersten Sitzung der U.N. Generalversammlung in 1946, wurde den Mitgliedsstaaten durch President Truman die folgende wichtigste Verantwortung auferlegt. Er sagte, die U.N. “ kann die eigenen Verpflichtungen nicht adäquat erfüllen, solange keine Friedensabkommen gelten und diese Friedensabkommen eine solide Basis für ständigen Frieden bilden.“
Aber die traurige Wahrheit ist, dass die Mitgliedsstaaten Instrumente und Standards der U.N. selektiv anwenden. Oft stellen sie Geschäfts- und Handelsinteressen vor das Leben unschuldiger Menschen, die von Konflikten betroffen sind. Wir werden müde oder desillusioniert und wenden unsere diplomatischen Bemühungen ab, bevor die Staaten stabilisiert sind. Wir suchen Friedensvereinbarungen, wie zum Beispiel in Afghanistan, die Menschenrechte nicht zentral beinhalten. Und wir beachten den Einfluss des Klimawandels als Hauptfaktor von Konflikt und Vertreibung kaum.
37.000 Vertriebene pro Tag
Wir setzen Hilfe als Ersatz für Diplomatie ein. Aber man kann Krieg nicht mittels humanitärer Hilfe befrieden. Schon gar nicht, wenn die wenigsten humanitären Fonds mit nicht einmal 50% finanziert sind. Für den Fonds, der 2019 für Syrien nötig wäre, erhielt die U.N. nur 21%. Für Libyen beträgt das Ausmaß nur 15%.
Voriges Jahr betrug die durchschnittliche Zahl der Vertriebenen 37.000 pro Tag. Stellen Sie sich vor, für dieses Maß an Verzweiflung Unterstützung zu organisieren, wenn nicht einmal Mittel zur Verfügung stehen, um der Hälfte der Personen zu helfen.
Der 20. Juni ist der Weltflüchtlingstag. Er gemahnt uns, dass es eine Illusion ist zu denken, irgendein Staat kann sich hinter seine Grenzen zurück ziehen und schlicht hoffen, dass die Probleme vorbei ziehen. Wir brauchen politische Führung und Diplomatie. Wir müssen auf langfristigen Friede – aufbauend auf Gerechtigkeit, Recht und Verlässlichkeit – fokussieren, damit Flüchtlinge nach Hause zurück kehren können.
Das ist kein sanfter Zugang. Das ist der harte Weg des Tuns, aber es ist der einzige, der einen Unterschied machen wird. Die Entfernung zwischen uns und den Flüchtlingen der Vergangenheit ist kürzer als wir denken.
Angelina Jolie
Angelina Jolie ist mitwirkende Redakteurin des Magazins TIME, Schauspielerin, Oskar-Preisträgerin und Gesandte des U.N. Flüchtlingshochkommissariat
Vor 80 Jahren, am 14. April 1939, erschien der Roman ‚Früchte des Zorns‘ von John Steinbeck. Er beschreibt die Erfahrungen jener Menschen, die aus Oklahoma ins 2000 Kilometer entfernte Kalifornien auswanderten, weil das Farmland Oklahomas – zusätzlich zur Not aufgrund der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre – von vernichtenden Staubstürmen heimgesucht war.
Bevor Steinbeck den Roman schrieb, erarbeitete er eine Zeitungsreportage über das Schicksal der Flüchtlinge.
Der Roman löste Kritik an ihm aus. Präsident Hoover nannte den Autor einen ‚gefährlichen Umstürzler‘. Er löste jedoch auch soziale Veränderungen in Amerika aus. Steinbeck erhielt den Pulitzerpreis (1940) und den Literaturnobelpreis (1962).
Wo Integration in Österreich besonders gut funktioniert. Eine Reise durch die hilfsbereite Republik
Der Garten der Begegnung in Traiskirchen, das Cafe Namsa in Innsbruck (Namsa – so heißt Österreich auf Arabisch), der Kontaktchor im Ländle, bei dem Christen und Muslime gemeinsam ‚Give Peace a Chance‘ von John Lennon singen, Tea2Stay (statt Coffee2Go) in Pinkafeld. 4 von 28 ausgewählten und in der Falter-Beilage beschriebenen Initiativen, die von Hilfsbereitschaft und Integrationsbereitschaft erzählen.
Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften veröffentlichten Anfang Jänner 2018 Ergebnisse einer Studie zu Entwicklung der Gewalt in Deutschland. Augenmerk galt zum Einen dem deutschen Bundesland Niedersachsen, zum Anderen Flüchtlingen als Gewalttäter und Opfer von Gewalttaten mit Beschränkung auf jene Menschen, die in den Jahren 2015 und 2016 nach Deutschland gekommen sind (Asylbewerber, international/national Schutzberechtigte, Asylberechtigte, Kontingentflüchtlinge, Personen, die eine Duldung erhalten haben oder die sich unerlaubt im Land aufhalten).
Anlass der Untersuchung war die Tatsache, dass die Zahl der polizeilich registrierten Gewalttaten in Niedersachsen zwischen 2007 und 2014 kontinuierlich und insgesamt um 21,9% zurückgegangen sind, 2015 und 2016 jedoch eine Zunahme an Gewaltkriminalität um 10,4% verzeichnet wurde. Die Straftaten wurden zu 83% aufgeklärt. Der Anstieg ist zu 92,1% Flüchtlingen zuzurechnen. Der Anteil an aufgeklärten Fällen mit verdächtigen Flüchtlingen ist von 4,3% auf 13,3% angestiegen.
Die Studienautoren bieten folgende Erklärungsansätze:
Mehr Flüchtlinge sind im Land
Die Zahl der in Niedersachsen registrierten Flüchtlinge ist um 117% gestiegen.
Aufenthaltsperspektive fehlt
Menschen aus Ländern wie Algerien, Tunesien, Marokko, denen kein Aufenthaltsstatus gewährt wird, werden überdurchschnittlich häufig straffällig. Ihr Anteil an registrierten Flüchtlingen beträgt 0,9%. Bei 17,1% der aufgeklärten Gewaltdelikten und bei 31% der Raubdelikte sind sie als Tatverdächtige geführt. Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan machen einen Anteil von 54,7% aus. Ihr Anteil an Gewaltdelikten beträgt 34,9%, an Raubtaten 16%.
gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen
Flüchtlinge aus muslimischen Ländern sind von männlicher Dominanz geprägt. Laut einer Repräsentativbefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen haben sie in höherem Maß gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen verinnerlicht, als gleichaltrige Männer, die in Deutschland geboren sind.
Frauen fehlen
Während in der niedersächsischen Bevölkerung der Anteil der Frauen 50,9% beträgt, liegt ihr Anteil bei den nach Niedersachsen geflüchteten Menschen bei 22,3%. Es fehlt laut Studienautoren die gewaltpräventive, zivilisierende Wirkung, die von Frauen ausgeht.
verzerrendes Anzeigeverhalten
Gewaltopfer sind gemäß sogenannter Dunkelfeldforschungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsens eher bereit, die Tat anzuzeigen, wenn der Täter ihnen unbekannt ist oder einer anderen ethischen Gruppe angehört. Deutsche Täter werden von migrantischen Opfern seltener angezeigt, als andere Täter. Die Studienautoren gehen von einem Misstrauen der Flüchtlinge gegenüber der Polizei aus und davon, dass von Flüchtlingen begangene Gewaltdelikte doppelt so oft angezeigt werden, als Taten deutscher Täter.
Flüchtlinge als Opfer von Flüchtlingen
Zu 12,6% richtet sich Gewaltkriminalität von Flüchtlingen gegen Angehörige der eigenen ethnischen Gruppe, zu 19,6% gegen Angehörige anderer Flüchtlingsethnien, zu jeweils 1/3 gegen andere Ausländer und gegen Deutsche. Vorsätzliche Tötungsdelikte, bei denen Flüchtlinge tatverdächtig sind, kommen zu 91% unter Flüchtlingen bzw. anderen Nichtdeutschen vor. Für gefährliche/schwere Körperverletzung gilt das in 3/4 der Fälle. Die Studienautoren vermuten beengte räumliche Wohnbedingungen und das Aufeinandertreffen von Menschen mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen als auslösend für diese Gewaltkonflikte. Bei Raubdelikten sind zu 70% Deutsche Opfer. Bei Vergewaltigung/sexueller Nötigung beträgt der Anteil deutscher Opfer 58,6%. Hier weist die Studie auf den möglichen Verzerrungseffekt hin, dass ausländische Opfer Hemmungen haben, sich an die deutsche Polizei zu wenden bzw. wenig über ihre diesbezüglichen Rechte wissen.
junge Männer als Gewalttäter
14- bis unter 30-jährige Burschen und Männer sind in jedem Land der Welt bei Gewalt- und Sexualdelikten überrepräsentiert. In Niedersachsen betrug ihr Anteil an der Wohnbevölkerung im Jahr 2017 9,3%. Sie stellten 51,9% der Tatverdächtigen aller geklärten Fälle von Gewaltkriminalität. Bei den im Jahr 2016 nach Niedersachsen geflüchteten Menschen handelt es sich zu 26,9% um männliche 14- bis unter 30-Jährige. Aus Ländern mit gefährlichen Fluchtrouten – wie zB aus Nordafrika mit dem Fluchtweg Mittelmeer – beträgt der Anteil an Männern dieser Altersgruppe 49,4%, bei Flüchtlingen aus Syrien, Irak, Afghanistan 25%, aus osteuropäischen Ländern 14,9%
Quellen und links
Studie ‚Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland‚ der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge; Christian Pfeiffer, Dirk Baier, Sören Klien
Diverse Präsidentschaftswahlen (USA, Österreich) und das stete Bemühen zahlreicher österreichischer PolitikerInnen, asylsuchende Menschen unter Hinweis auf Notstände von Österreich fern zu halten, lässt unter Umständen übersehen, dass
a) zum Beispiel in Syrien nach wie vor Krieg ist
b) Menschen nach wie vor versuchen, ihr Leben und das ihrer Lieben zu retten
c) die sogenannte Flüchtlingskrise somit nach wie vor besteht (nur für Österreich weniger unmittelbar ist als im Vorjahr)
d) anderenorts Menschen nach wie vor sehr unmittelbar solidarisch gefordert sind und sich um jene Menschen kümmern, die die Fahrt über das Mittelmeer bewältigen konnten.
Einer dieser Orte ist die griechische Insel Lesbos, die jüngst in den Medien hierzulande sehr knapp erwähnt war, weil in einem Flüchtlingscamp in Moria Feuer ausgebrochen ist, bei dem eine 66-jährige Frau und ein 6 Jahre altes Kind ums Leben kamen.
Lesbos für Friedensnobelpreis nominiert
Im August 2012 kamen die ersten Flüchtlinge in Booten auf Lesbos an. Seitdem hat sich das Leben auf der bei TouristInnen beliebten Insel erheblich verändert. Trotz der großen Krise, die Griechenland selbst durchmachte, entwickelten die Menschen auf Lesbos eine tatkräftige Hilfsbereitschaft – in Ausmaß und Ausdauer derart vorbildlich, dass sie für den Friedensnobelpreis 2016 nominiert wurden. Dieser ging zwar an den Präsidenten von Kolumbien, doch zwei der vielen Personen, die sich auf Lesbos humanitär engagieren (Kapitän Konstantinos Mitragas und Efi Latsoudi), wurden mit dem UNHCR’s Nansen Preis 2016 ausgezeichnet.
Alte Frauen kochten, kümmerten sich um Babys, halfen beim Wäsche waschen. Jüngere Menschen etablierten selbst organisierte Flüchtlingsunterkünfte. Lokale Fischersleute retteten Scharen von Menschen aus dem Wasser. Der Fotograf Daniel Etter schuf diesen Menschen mit seiner Ode an Lesbos ein berührendes Denkmal, das ob etwaiger eigener Untätigkeit auch eine gewisse Beschämung auszulösen im Stande ist.
Mit Status September waren es 93.600 Flüchtlinge, die allein 2016 auf Lesbos ankamen. Das sind etwas mehr Menschen, als auf der Insel leben. Die meisten Ankommenden versuchten, nach Athen zu ziehen. Mehr als 6.000 Asylsuchende leben auf Lesbos.
Die Bewohnerinnen und Bewohner von Lesbos scheinen ihre Hilfsbereitschaft als Selbstverständlichkeit zu verstehen. Das – so ein Erklärungsversicht – liege daran, dass sie selbst von Flüchtlingen abstammen. Rund 60 % der 90.000 EinwohnerInnen sind Nachfahren jener 1,2 Millionen Griechisch Orthodoxen Christen, die in den 1920er Jahren aus der Türkei vertrieben wurden.
„Wie teuer ist das?“ so lautet der Titel einer Reportage in DIE ZEIT vom 29. September 2016 von Martin Klingst über die gehaltenen und nicht gehaltenen Zusagen für die syrische Flüchtlingshilfe.
Darunter dieses Bild samt Grafik:
Die Grafik zeigt, wie viel Geld für die syrische Flüchtlingshilfe 3RP (Regional Refugee Resilience Plan) sowie dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR zugesagt wurde. Und wieviel davon schon bezahlt ist.
Für 3RP wurden im Februar 2016 auf einer Geberkonferenz in London von 70 Staaten 4,54 Mrd. US-Dollar zugesagt. 47,6 % sind laut OCHA (UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten) davon bezahlt. Der größte Betrag (611 Mio. US-Dollar) stammt von Deutschland. Es folgen USA, Europäische Kommission, Großbritannien, Japan, Kanada, Private Spender (mit 76,4 Mio. US-Dollar), Norwegen, Frankreich, Niederlande.
Diese Unterfinanzierung bestätigt das UNHCR. Es hätte vom 3RP-Programm 1,3 Mrd. US-Dollar bekommen sollen, eingelangt sind 746 Millionen.
Die UN schätzt, dass insgesamt 5,78 Milliarden Dollar heuer aufzubringen sind, wenn man die aus dem Kriegsland Syrien geflüchteten Menschen in den Aufnahmeländern Libanon, Jordanien, Türkei, Irak und Ägypten versorgen möchte. Gelingt dies nicht, werden sich wieder Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machen.
Übrigens: Das Bild oben zeigt das Flüchtlingslager Saatari. Es ist mittlerweile die viertgrößte Stadt Jordaniens.
‚Flüchtlinge – das tödlichste Jahr‘ (Zeit online, 31.5.2016)
‚Ertrunkene Flüchtlinge: Helfer bergen Babyleiche im Mittelmeer‘ (Spiegel online, 30.5.2016)
‚IOM warnt – Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge stark gestiegen‘ (MIGAZIN, 15.2.2016)
Schlagzeilen wie diese gehören mittlerweile zum Alltag in europäischen Medien. Haben wir uns daran gewöhnt? In seinem Kommentar für Spiegel online am 31.5.2016 konstatiert Maximilian Popp, dass die Menschen in Europa von dem mannigfachen Sterben im Mittelmeer nicht mehr berührt werden.
Ertrunkene Babys: zwei ähnliche Fotos – sehr unterschiedliche Reaktionen
Das eine Foto zeigt das tote Flüchtlingskind Alan Kurdi. Die türkische Journalistin Nilüfer Demir veröffentlichte es im September 2015. Es löste weltweite Reaktionen aus, sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in der Politk. Zum Beispiel – so Popp – brach der kanadische Migrationsminister seinen Wahlkampf für eine Krisensitzung ab und Ahmet Davutoglu, damals türkischer Regierungschef, drängte die Europäer zur Zusammenarbeit in der Asylpolitik.
Das andere Foto zeigt einen Flüchtlingshelfer auf einem Boot im Mittelmeer, im Arm ein totes Baby. Die Organisation Sea-Watch veröffentlichte es im Mai 2016. Keine Politikerin, kein Politiker äußerte sich bislang dazu.
Nach Schätzungen seien in den vergangenen 15 Jahren mindestens 30.000 Menschen auf der Flucht nach Europa gestorben. IOM (International Organization for Migration) zählte allein für 1. Jänner bs 29. Mai 2016 über 2.440 Tote oder Vermisste. Die EU – Friedensnobelpreisträgern 2012 – schottet sich ab. Und sieht dem Sterben zu?
Das schlimmste Jahr im Mittelmeer?
Zum Abschluss eine weitere Schlagzeile:
‚Mittelmeer:Statistik des Schreckens‚ (www.unhcr.de)
Der Artikel ist vom 2.10.2014. Er beginnt wie folgt:
Neue Daten zeigen einen alarmierenden Anstieg von irregulären Überfahrten über das Mittelmeer nach Europa im dritten Quartal 2014.
Danach haben auf diese Weise 90.000 Menschen Europa zwischen dem 1. Juli und 30. September 2014 erreicht, mindestens 2.200 Menschen starben bei dem Versuch. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum des Vorjahres wurden 75.000 Menschen und 800 Tote gezählt. Mit anderen Worten: Das Risiko, sein Leben bei der gefährlichen Überfahrt zu verlieren, hat sich statistisch gesehen verdoppelt.
Lesestoff:
Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit
Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa
Im Auftrag des SPIEGEL bereisten der Schriftsteller Navid Kermani und der Magnum-Fotograf Moises Saman eine der großen aktuellen Flüchtlingsrouten in entgegengesetzter Richtung: von Budapest bis Izmir. Die Reportage erweiterte er für das im C.H. Beck-Verlag erschienene Buch.
In seiner bewegenden Reportage berichtet er davon, warum die Welt der Krisen und Konflikte, die wir weit vor den Toren Europas wähnten, plötzlich auch unsere Welt ist.