Kinderleid in Syrien – neuer Höhepunkt in 2016

Sechs Kategorien von schweren Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder in Konfliktsituationen sind von den UN definiert worden:

  • Tötung und Verstümmelung
  • Rekrutierung von Kindern als Soldaten
  • sexuelle Gewalt gegen Kinder
  • Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser
  • Verweigerung des humanitären Zugangs zu Kindern
  • Entführung

– in Syrien offensichtlich an der Tagesordnung

Zum traurigen sechsten Jahrestag des Syrienkrieges veröffentlichte das UN-Kinderhilfswerk UNICEF im März 2017 einen Bericht unter dem Titel „2016 war schlimmstes Jahr für Kinder in Syrien“:

  • 2016 wurden insgesamt über 2.500 Fälle von direkter Gewalt und schweren Kinderrechtsverstößen offiziell dokumentiert.
  • Verstümmelung und Rekrutierung von Kindern haben drastisch zugenommen.
  • UNICEF hat den gewaltsamen Tod von 652 Kindern verifiziert, das ist ein Anstieg um 20 % gegenüber 2015. 255 dieser Kinder starben in oder in der Nähe einer Schule.
  • Die Rekrutierung von mehr als 850 Minderjährigen durch bewaffnete Gruppen wurde dokumentiert, das sind doppelt so viele wie 250.

UNICEF berichtet, dass Kinder und Jugendliche immer häufiger nicht nur als Träger oder Wachtposten, sondern direkt als Kämpfer an der Front eingesetzt. Selbst für die Durchführung von Exekutionen oder Bombenattentaten werden Kinder missbraucht.

Verifizierung der Kinderrechtsverletzungen

Ein eigens eingesetzter Arbeitsstab verifiziert die Fälle von Gewalt gegen Kinder. Das heißt, es werden detaillierte Informationen über Alter und Geschlecht des Kindes und genauen Ort des Vorfalls von speziell geschulten Personen erfasst. Aus Sicherheitsgründen und Mangel an verlässlichen Quellen ist eine derart genaue Überprüfung häufig nicht möglich. Es ist daher davon auszugehen, dass die Zahl der Kinderrechtsverletzungen deutlich höher ist.

Das Leid der syrischen Kinder ist unzählbar und unfassbar

Abseits der gewaltsamen Tode durch Bomben, Kugeln und Explosionen sterben ungezählte Kinder unbemerkt an vermeidbaren Krankheiten, die leicht geheilt werden könnten. Aber im Syrien der heutigen Tage fehlt medizinisches Personal sowie der Zugang zu medizinischen Einrichtungen.

Die schwierigste Situation durchleiden die 2,8 Millionen Kinder in den schwer erreichbaren Regionen, 280.000 davon in belagerten Regionen, wo Lieferungen mit Lebensnotwendigem sowie medizinische Versorgung von den Belagerern  verhindert werden.

Nach sechs Kriegsjahren

  • sind nunmehr nahezu 6 Millionen Kinder von humanitärer Hilfe abhängig.
  • Einige Kinder sind bis zu sieben Mal auf der Flucht gewesen.
  • Über 2,3 Millionen syrische Kinder leben als Flüchtlinge in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, Ägypten und Irak.
  • Viele riskierten ihr Leben beim Versuch, sich übers Mittelmeer nach Europa zu retten.

Zu alldem kommen die schlechte Ernährungslage, kaum sichere Schulbesuchsmöglichkeiten und eine völlig unzureichende medizinische Versorgung.

Quellen und links

UNICEF Bericht HOW 2016 BECAME THE WORST YEAR FOR SYRIA’S CHILDREN

UNICEF Presseinformation vom 13. März 2016

Über Syrien auf 1-sicht

Krieg in Syrien und keine Ende in Sicht. Krieg in Libyen und der Zusammenfalls des Staates in Sicht.

Wie teuer ist das? – Syrische Flüchtlingshilfe

Syriens Nachbarn und die Flüchtlinge

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1-sicht empfiehlt Lese-, Hör-, Sehstoff: März 2017

Lesestoff:
Joseph Roth, Stefan Zweig: Jede Freundschaft mit mir ist verderblich, Briefwechsel 1927-1938

Im Februar 2017 war es 75 Jahre her, dass Stefan Zweig im Exil in Brasilien gemeinsam mit seiner Frau Charlotte freiwillig aus dem Leben schied (23. Februar 1942). 1942 war Joseph Roth bereits 3 Jahre tot. Die beiden Schriftsteller verband neben ihrer jüdischen Herkunft der wache und kritische Blick auf die Gesellschaft, die Gabe, Entwicklungen früh zu erkennen, zu benennen und in bis heute nachvollziehbarer Weise zu beschreiben, eine immense Reisetätigkeit und die Flucht vor den Nationalsozialisten. Zweig und Roth pflegten von 1927 bis 1938 regen Briefwechsel, der 2011 erstmals veröffentlicht wurde.

„… Ihre Briefe erzählen die Geschichte einer Freundschaft, die auch an den politischen Verhältnissen zerbricht – und die Geschichte zweier im Exil zerstörter Leben.“ (Buchrückentext)

Dass deutlich mehr Briefe von Roth erhalten sind liegt – so die Annahme des Herausgebers – daran, dass Roth kaum je über eine eigene Wohnung verfügte.

Jede Freundschaft mit mir ist verderblich
Quelle: www.diogenes.ch

Die abgebildete Taschenbuchausgabe aus 2014 enthält neben den Briefen unter anderem einen erläuternden Herausgeberbericht, ein umfangreiches Quellenverzeichnis sowie einen Anhang mit Aussagen zu Roth in Zweigs Korrespondenz mit Anderen.

Quellen und links

Diogenes-Verlag

Über Joseph Roth

wikipedia

Medien: Spiegel der Gesellschaft mit Fähigkeit zu Selbstzweifeln – 1-sicht

1-sicht empfiehlt Lese-, Hör-, Sehstoff – Jänner 2016

Über Stefan Zweig

wikipedia

1-sicht empfiehlt Lese-, Hör-, Sehstoff – Juni 2016

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Der Milliardär Robert Mercer und sein Propagandanetzwerk

Schon von CNSnews.com gehört? Dort liest man, dass die Medien, wie wir sie bisher kannten, tot sind, weil man ihnen nicht trauen kann. Das kommt einem bekannt vor, hört man in jüngerer Zeit oft. The Guardian  hat sich auf CNS-Spurensuche begeben. (Carole Cadwalladr, 26. Februar 2017)

Eigentümer der website ist Media Research Center, nach eigenen Angaben Amerikas Medienüberwachungsplattform, die den ‚Linksdrall‘ bei Nachrichten, Medien und in der populären Kultur neutralisieren möchte.  Hauptfinanzier der website ist Robert Mercer, der zuerst Ted Cruz im Präsidentschafts-Wahlkampf unterstützte und dann, als dieser ausschied, sich großzügig Donald Trump zuwandte. 13,5 Millionen Dollar sollen es gewesen sein, die Mercer, ehemaliger IBM-Forschungsmitarbeiter, in Trumps Kampagne fließen ließ. Nicht nur das. Seit 2010 spendete er für republikanische Politkampagnen 45 Millionen Dollar und weitere 50 Millionen Dollar für rechte und konservative Non-profit-Organisationen. Eine der Organisationen, die sich über Mercers finaziellen Zuspruch freuen darf, ist das Heartland Institute, ein thinktank, der den Klimawandel leugnet.

Mercer, Bannon und ein kleines britisches Big-Data-Unternehmen

Das Media Research Center ist einer der Ausgangsorte, von denen die Medienwelt, wie wir sie kennen, gestört werden soll. Sehr hilfreich ist dabei Steve Bannon, der als Trumps Kampagnenmanager wirkte und jetzt sein Chefstrategist ist. Mit Mercers Geld – 10 Millionen Dollar davon – sponserte Bannon die Online-Seite Breitbart, gegründet von Andrew Breitbart, nach dessen Tod von Bannon in dessen Sinn forgeführt: antisemitisch, islamophobisch und mit dem Ziel, ‚die Kultur zurück zu holen‘. Nicht nur in USA, 2014 ging Breitband in London online.

Sehr hilfreich ist weiters das kleine britische Analytikunternehmen Cambridge Analytica, bei dem Mercer Anteile von 10 Millionen Dollar hält. Cambridge Analytica beschreibt sich als spezialisiert auf ‚Wahlmanagement-Strategien‘ und ‚Kommunikations- und Informationsmethoden‘, welche in mehr als 25 Jahren in beispielsweise Afghanistan und Pakistan zu hoher Reife verfeinert wurden. In militärischen Kreisen spricht man von psychologischen Operationen. Anders ausgedrückt: Massenpropaganda, die auf die Emotionen der Menschen wirkt. Das Unternehmen arbeitete für die Wahlkampagne des nunmehr 45. US-Präsidenten. Es arbeitete auch für die Leave-Kampagne in Großbritannien (Brexit). Nigel Farage, der Frontmann der britischen Anti-EU-Kampagne, soll ein Freund der Familie Mercer sein.

Es begann mit einem Quiz.

Jonathan Albright, Professor der Kommunikationswissenschaften der Elon Universität in  North Carolina machte das News-Netzwerk mit seinen Millionen von links zwischen rechtsorientiertierten Seiten sichtbar, über das auch Unternehmen wie Cambridge Analytica Menschen im web folgen können und dann punktgenaue Werbung auf den social-media-Plattformen platzieren können. Das Analyseunternehmen prahlt auf der eigenen website damit, psychologische Profile, basierend auf 5.000 einzelnen Datenmerkmalen von 220 Millionen amerikanischen WählerInnen zu haben – das entspricht fast der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung.

Das zugrunde liegende psychometrische Modell wurde am Psychometric Center der Universität Cambridge entwickelt und startete mit einem Persönlichkeitsquiz auf Facebook. Mehr als 6 Millionen machten mit und produzierten so diesen Datenschatz. Cambridge Analytica behauptet, durch die ‚likes‘ der Menschen und die Korrelierung derselben mit denen Millionen anderer, lernt der Algorithmus die Menschen besser kennen, als sie sich selbst. 150 likes und er weiß mehr über eine Person, als dessen PartnerIn, 300 und er kennt einen besser als man sich selbst.

Das nutzten die Trump-Leute ebenso wie die Brexit-Leute.

Algorithmen beeinflussen Verhalten und Anschauungen

Professor Rust, Direktor des Psychometric Center der Cambridge Universität – die Daten für die beiden Kampagnen sind nicht von seinem Institut, beteuert er – hält die Manipulationsmöglichkeit für brandgefährlich. Mit derartigen Daten könne ein Computer psychologisch agieren, menschliches Verhalten vorhersagen und beeinflussen. Es sei eine Art Gehirnwäsche.

„Es ist keine Übertreibung zu sagen, Denkweisen können beeinflusst werden.  … Niemand hat die Konsequenzen zu Ende gedacht. Die Menschen wissen nicht, dass das mit ihnen passiert. Ihre Geisteshaltungen werden hinter ihrem Rücken verändert.“ (Professor Jonathan Rust)

Mercer also investierte in Cambridge Analytica. Das hat die technologischen Möglichkeiten. Dessen Muttergesellschaft SCL ist spezialisiert auf die Entwicklung von Strategien – für beispielsweise keine Geringeren als NATO oder US-Außenministerium, schreibt Emma Briant, Spezialistin für Progaganda an der Universität Sheffield in ihrem 2015 erschienene Buch ‚Propaganda an Counter-Terrorism: Strategies für Global Change‘

Die Rolle der ‚Bots‘

Es scheint, dass gleichzeitig Massen- wie Individualkommunikation manipuliert werden. Beides mit Hilfe jener Plattformen, die – vorgeblich – dazu gegründet wurden, die Menschen zusammen zu bringen. Emma Biant geht davon aus, dass wir in einem neuen Zeitalter der Propaganda leben. Einem Zeitalter, in dem die Überwachung durch Technologie durchdringend ist und das Sammeln und Nutzen der Daten so raffiniert wie nie zuvor. Verdeckt und von den meisten unbemerkt.

Wer steuert die Propaganda? Von wem geht sie aus?

Sam Wolley vom Oxford Internets Institute hat beobachtet, dass vor dem EU Referendum Großbrittanniens, ein Drittel des Gezwitschers auf Twitter von automatisierten ‚bots‘ ausging. Bots sind Profile, die aussehen wie Menschen, agieren wie Menschen und die dafür programmiert sind, die Konversation zu verändern und Trendthemen zu generieren. Diese bots waren alle für den Brexit. Vor der US-Wahl stand es 5 zu 1 für Trump, viele von ihnen waren russisch.

Um die Meinungs- und Emotions- und sonstige Führerschaft zu erlangen,  heißt es nun, die Trendthemen geschickt  in die eigene Kommunikation – online wie offline – einzubauen. Die Penetranz, mit der dies geschieht, ist dem Algorithmus geschuldet.  Denn der reflektiert ja wiederum auf die Trendthemen.

Phil Howard, Direktor des Oxford Internet Institutes, Abteilung für computergesteuerte Propaganda, machen die zahllosen Schläfer-bots Sorgen. Tausende Twitter accounts, die nur ein oder zweimal zwitscherten und jetzt geduldig auf einen Auslöser warten.

Man führe sich  vor Augen: Technologie, die in einem autoritären Regime entwickelt und verfeinert wird, kommt in einem freien Markt mit diesbezüglichem Regulationsvakuum zum Einsatz. Das kann ungemütlich werden.

Investigativjournalismus speist Mercers Manipulationsmaschinerie

Wie dringt die eine Erzählung, die zählt, durch? Mittels hart recherchierter Fakten! Das überrascht.

Steve Bannon erklärt, es sei nur mittels hart recherchierter Fakten möglich, direkt auf die Titelseite der New York Times zu kommen. Und dort will man hin, um die Botschaften der Anderen zu ertränken.

Mit 2 Millionen Dollar von Mercers Geld gründeten Bannon und andere das Government Accountability Institute (GAI). Mercers Tochter Rebekah wurde in den Aufsichtsrat bestellt und man gab sich dem teuren und langfristig ausgerichteten Investigativjournalismus hin. Was Bannon 2015 als das Graben im dunklen Web beschrieb, bei dem Daten ans Tageslicht kamen, die nicht einmal Google gefunden hatte. Ein Ergebnis dieser Recherche ist das Buch, das zum New York Times Bestseller avancierte: ‚Clinton Cash: The Untold Story of How and Why Foreign Governments and Businesses Helped Make Bill and Hillary rich.‘ Autor: Peter Schweizer, Präsident von GAI. Bannon und Rebekah Mercer produzierten auch einen Film darüber.

Mercer und Bannon, der eine versteht künstliche Intelligenz, der andere, wie Medien funktionieren. Es scheint, als beherrschten die beiden sogar bereits die Big-Data-Giganten Google und Facebook.

Marshall McLuhan, der große Informationsvordenker und -theoretiker der 1960er Jahre wird wie folgt zitiert: „Der 3. Weltkrieg wird ein Guerillakrieg um Informationen. Ohne Unterscheidung zwischen militärischer und ziviler Beteiligung.“

Quellen und links

the Guardian, 26. Februar 2017: Robert Mercer: the big data billionair waging war on mainstream media, Carol Cadwalladr

Emma briant: Propaganda and Counter-Terrorism: Strategies for Global Change

the Guardian, 4. März 2017:
Cambridge Analytica affair raises questions vital to our democracy

Did Cambridge Analytica influence the Brexit vote and the US election?

Über Cambridge Analytica auf 1-sicht

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Kulturelle Identität – ein Mythos?

Aktuell haben Streitgespräche um Integration und Assimilation, um Leitkultur und Identität Hochkonjunktur. Im Deutschlandfunk vom 12.2.2017 war ein Debattenbeitrag von Professor Daniel Hornhuff zu hören, der hier auszugsweise zusammengefasst ist.

Kulturelle Identität und Werte

Der Verzehr von Schweinefleisch gilt manchen als Wesensmerkmal einer bestimmten  ‚Leitkultur‘ beziehungsweise als Zeichen von Integrationswille oder gelungener Integration in diese Leitkultur. Neben den Essgewohnheiten ist ‚die Kultur‘ schwer umkämpftes Terrain jener, die vermeintlich definierte Identitäten schützen wollen. ‚Die Kultur‘ sei vor Einflüssen des Marktes ebenso zu schützen, wie vor Einflüssen des irgendwie Andersartigen. Das deutsche Kulturschutzgesetz beispielsweise möchte „Kulturgut, das für die Bundesrepublik von nationaler Bedeutung ist“ schützen. Dem hält der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller pointiert entgegen: „Ein glaubwürdiges Gesetz müsste nicht das gemeindeutsche Interesse an der Kultur schützen, sondern eher die Kultur vor dem Gemeindeutschen.“

Werte – gibt es die?

Die gemeinsamen – seien es die vermeintlich österreichischen, deutschen, europäischen, christlichen – Werte sind hoch zu halten, hört man von Linken wie Rechten, von Progressiven wie Konservativen, von Pragmatikern wie Idealisten. Sie meinen Unterschiedliches und fordern Unterschiedliches, oftmals Entgegengesetztes. Das zeigt,

Werte sind gerade keine essentiellen Eigenschaften von Menschen, Gemeinschaften, politischen Systemen oder kulturellen Ordnungen. Werte sind nie universell. Wären sie es, können Werte kein Gegenstand von Auseinandersetzung sein. Aber genau das sind sie: Bestandteil von Kommunikation, von Streit, von Zweifeln. Werte sind eine Frage der Perspektive und damit relative Größen. (Andreas Urs Sommer)

Allerdings entbindet uns dies nicht davon,

  • um Werte zu ringen
  • sie ständig von einer geänderten Warte und mit Distanz zu betrachten
  • den eigenen Werten zu misstrauen und
  • andere Wertauffassungen gleichberechtigt zuzulassen.

Ein souveränes Verhältnis zu jenen Werten zu entwickeln, die man kraft Sozialisation und Erziehung als die eigenen wahrnimmt, wäre ein aufklärerischer Akt und ein guter Weg, Wertemonotheismus zu vermeiden.

Dadurch unterscheiden sich moderne Gesellschaften von Glaubensgesellschaften. Hier wird vernunftgeleitet um stichhaltige Argumente gerungen. Wohingegen Glaube nicht diskutabel ist. Was nicht bedeute, dass Vernunft und Glaube einander ausschließen. Vielmehr erlange die Vernunft nur Sinn, wenn an etwas geglaubt wird, sei der Glaube also Bestandteil der Vernunft.

Wertedebatten – der Weg ist das Ziel

Wer nicht bereit ist, Werte stets aufs Neue auszuhandeln, bereitet den Boden für totalitäre Gesellschaften. Wer sich auf Wertehierarchien einlässt, befördert rassistische Tendenzen.

Es ist verführerisch, weil in instabilen Zeiten Stabilität versprechend, über ‚Kultur‘ Identität und Zugehörigkeit stiften zu wollen. Oft entsteht diese erst durch die Abgrenzung – und Abwertung – anderer Identitäten (Zivilisierte – Wilde;  Weiße – Schwarze; Protestanten – Katholiken; Orientale – Europäer; …). Diese Art von Denken, so die Publizistin Carolin Emcke, prägt sowohl rechtsextremistische wie dschihadistische Gruppen.

Zu einem besonnenen und aufgeklärten Umgang mit Werten rief jüngst Norbert Lammer, Präsident des deutschen Bundestages auf:

„Nach meiner Überzeugung brauchen wir in Deutschland mehr denn je den kontinuierlichen Diskurs über den Mindestbestand an gemeinsamen Orientierungen und Überzeugungen, unter allen Bürgerinnen und Bürgern, den Einheimischen wie den Zuwanderern – ohne Tabuisierungen.“

Auf persönlicher Ebene bedeutet Wertepluralismus, „die Schmach der eigenen Relativität zu aktzeptieren“.

Sich zu fragen, woher das eigene mehr oder weniger konkret wahrgenommene Wertespektrum kommt, wodurch es bestärkt und gestützt wird, ist ein Schritt, dem Mythos der kulturellen Identität keine weitere Nahrung zu geben. Wer sich selbst relativiert, begeht einen „Akt von höchster politischer Qualität“, denn er

„wechselt die Kategorie: Wo allenthalben wie von Sinnen nach kulturellen Identitäten geschrien und immer neue Leitkulturen ausposaunt werden, besetzt der Sich-selbst-Misstrauende einen anderen Ort. Dort mag er ebenfalls mit dem ganzen Eifer seiner Person über Werte diskutieren – er wird aber längst nicht so leicht in Versuchung geraten, Werte als gegeben zu betrachten. Und mit Sicherheit wird er leidenschaftlich für seine Sache streiten – aber zugleich wissen, dass diese jeweils nur eine unter vielen anderen ist. Seine Meinung wird er als Möglichkeit deklarieren – und Abstand davon nehmen, abschließende Antworten geben zu können. Welch‘ ein Gewinn für ein Miteinander unter den Bedingungen der Moderne!“

Quellen und links

Der Mythos von der kulturellen Identität, Deutschlandfunk 12. Februar 2017

Daniel Hornuff: Vertretungsprofessor für Kunstwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

Über Werte auf 1-sicht

Unsere Werte – Artikel 2 des EU-Vertrages

Über Herausforderungen und Chancen der aktuellen Migration – Beitrag 2

 

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1-sicht empfiehlt Lese-, Hör-, Sehstoff: Februar 2017

Hörstoff:
Sweet Home Chicago
The White House All Stars

Barack Obama (vocal), Mick Jagger (vocal), Buddy Guy (vocal, guitar), BB King (vocal, guitar), Jeff Beck (guitar), Trombone Shorty (trombone), Keb Mo (guitar), Shemekia Copeland (vocal, guitar),  Susan Tedeschi (vocal, guitar), Derek Trucks (guitar), Warren Haynes (guitar), Gary Clark, Jr. (guitar) performing ‚Sweet Home Chicago“.

Vor rund 5 Jahren, am 21. Februar 2012 im Weißen Haus:

Kurzfassung

Langfassung

Barack Obama über Bluesmusik

… Niemand geht durch das Leben ohne beides zu erleben – Freude und Schmerz, Triumph und Traurigkeit. Der Blues erfasst alles, manchmal mit nur einem Vers oder einer Note. …

Über das Konzert im White House Archiv

President Barack Obama hosts, “In Performance at the White House: Red, White and Blues” (February 21, 2012)

USA: Millionäre machen Politik für ‚die Vergessenen‘

„Die vergessenen Männer und Frauen unseres Landes werden nicht länger vergessen sein“, sagt der 45. US-Präsident in seiner Antrittsrede am 20. Jänner 2017. Und: „Viel zu lange hat eine kleine Gruppe in unserer Hauptstadt die Früchte des Regierens geerntet, während das Volk die Kosten getragen hat. … Das Establishment schützte sich selbst, nicht die BürgerInnen.“

So spricht Donald Trump, der nach eigenen, 2015 gemachten Angaben über ein Vermögen von mehr als 8 Milliarden (nach späteren Aussagen mehr als 10 Milliarden) US-Dollar verfügt (wikipedia) und der nun 8 Millionäre, darunter 2 Milliardäre, als MinisterInnen ernennt (TIME):

Wirtschaftsminister Wilbur Ross: 2,5 Milliarden US-Dollar, verdankt sein Vermögen dem Ankauf und der Restrukturierung bankrotter Unternehmen

Bildungsministerin Betsy Devos: 1,25 Milliarden US-Dollar, verdankt ihr Vermögen der Hochzeit mit einem Erben von Amway

Außenminister Rex Tillerson: 325 Millionen US-Dollar, war CEO von ExxonMobil

Finanzminister Steve Mnuchin: 300 Millionen US-Dollar, als ehemaliger Partner bei der Investmentbank Goldman Sachs schloss er Tausende Menschen während der Rezession von der Bank aus

Arbeitsminister Andy Puzder: 45 Millionen US-Dollar, als Geschäftsführer der Fast-Food-Kette CKE verhinderte er Richtlinien wie die Erhöhung des Mindestlohns – Aktualisierung: Andy Puzder trat von der Nominierung zurück, als sich abzeichnete, dass er nicht genügend Stimmen bekommen wird.

Minister für Wohnungsbau und Stadtentwicklung Ben Carson: 29 Millionen US-Dollar, Neurochirug, der 2016 gegen Trump wahlkämpfte

Ministerin für Transport Elaine Chao: 24 Millionen US-Dollar, ehemalige Arbeitsministerin, sitzt in 4 Aufsichtsräten und ist mit Senator Mitch McConnell verheiratet

Gesundheitsminister Tom Price: 10 Millionen US-Dollar, investierte in Pharma-Unternehmen, sponserte Gesetzgebung, die zu seinen Gunsten war

Insgesamt beträgt das Reinvermögen des neuen US-Kabinetts 4,5 Milliarden US-Dollar – ohne das Vermögen des Präsidenten.
1 Dollar = 0,93 Euro (Währungsrechner, 6. Februar 2017)

Möge der Hunger nach Reichtum nun gestillt und das Streben der Kabinettsmitglieder frei dafür sein, dem amerikanischen Volk zu dienen.

Quellen und links

TIME, Ausgabe vom 30. Jänner 2017, Time online

über Donald Trum auf wikipedia

über Amway auf Forbes

über ExxonMobil auf wikipedia

über Goldman Sachs auf wikipedia

über CKE-Restaurants auf wikipedia

The New Yorker, 15.2.2017, The Rejection of Andy Puzder

Währungsrechner

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Fake-News, postfaktisch, alternative Fakten – wenn Machthaber ihre eigene Wirklichkeit bauen

Das postfaktische Zeitalter sei angebrochen, heißt es. Die Presse wird als Lügenpresse verunglimpft und der Verbreitung von fake-news bezichtigt. Manch sogenannte Medienunternehmen werden diesem Vorwurf tatsächlich gerecht. In den USA werden aus dem Umfeld des 45. Präsidenten offensichtliche Unwahrheiten als alternative Fakten bezeichnet. Im ‚Informationszeitalter‘, in dem das Internet umfassende Informationsmöglichkeit für alle Menschen verheißen hat, scheint die aufgeklärte Suche nach der Wahrheit einer fehlinterpretierten Idee des Rechts auf Meinungsfreiheit gewichen zu sein.

Mit belegbaren Tatsachen Lügen und fake-news entlarven

Marco Bertolaso Nachrichtenchef des Deutschlandfunks, weist in seinem Kommentar ‚Eine Lüge ist eine Lüge‘ vom 23.1.2017 sehr ausdrücklich darauf hin, dass man in modernen von der Aufklärung geprägten Gesellschaften zwar seine eigene Meinung nicht aber seine eigenen Fakten vertreten kann. Auch wenn man selbst im 21. Jahrhundert bezüglich der Tatsachen vielfach im Dunkeln tappt, müsse es unser Bestreben sein „mit immer neuen Anstrengungen und im Austausch mit anderen den Dingen auf den Grund zu gehen, bis wir der Tatsachen halbwegs sicher sind.“ Dass in den USA des 21. Jahrhunderts dieses Prinzip negiert und Medien mit Sanktionen gedroht wird, die bei ihrer – wir unterstellen: durch Recherche, Check und Gegencheck belegbaren – Darstellung bleiben, sei bedenklich und erinnert Bertolaso an den einstigen Umgang der Kirche mit Galileo Galilei, der nicht sagen durfte, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Wenn die Machthaber Kontrolle über die Nachrichten ausüben, schließen sich die Menschen früher oder später den gleichgeschaltenen Informationen an. Geschickte Diktatoren perfektionieren die Medienkontrolle. So hat beispielsweise der NS-Staat mittels professioneller Nutzung des damals neuen Massenmediums Radio „schlimmste Verbrechen mit falschen Tatsachenbehauptungen vorbereitet und begleitet“.

Bertolaso fordert insbesondere von den Medien, aber auch von allen anderen Institutionen, Lügen belegbar und begründbar als Lügen zu entlarven und Behauptungen als solche und nicht als Tatsachen zu präsentieren.

Mit unstrittigen Beweisen wider die Erschütterung des Expertentums

Der Sprachwissenschaftler Ekkehard Felder von der Universität Heidelberg warnt vor der „Erschütterung jedweden Expertentums“, wenn so gut wie jede Nachricht in den Dunstkreis der Lüge gezogen wird. Er plädiert für die Differenzierung zwischen Daten (unstrittige Beweise wie Zahlen und Fotos) und Fakten, welche bereits einer Interpretation unterzogen worden und damit uneindeutig seien. (Deutschlandradio Kultur, 23.1.2017)
Welch herausfordernde und demokratiepolitisch wichtige Aufgabe für seriöse Medien!

Trump in den rhetorischen Fußstapfen Milošević?

Was heute in den USA ‚alternative Fakten‘ sind, war ab den späten 1980er Jahren die ’serbische Wahrheit‘, mit der der spätere Präsident Serbiens und Jugoslawiens seine Macht aufbaute, konstatiert die Philosophin Dunja Melčić im Feuilletonbeitrag vom 20.1.2017 auf Deutschlandradio Kultur ‚Glatt gelogen wirkt verdammt ehrlich‘. In der serbischen Kommunikation habe die mündliche Sprache eine lange Tradition, was es dem Machthaber leicht machte, seine ‚Wahrheit‘ ungeachtet der offensichtlich verfügbaren Fakten sowie der Wirklichkeit zu verbreiten. Es sei im Wesentlichen darauf angekommen, wer etwas gesagt hat und nicht was gesagt wurde. „Wie das Oberhaupt eines schriftlosen Klans galt Milošević als die reine Quelle der quasi mündlichen Wahrheit.“, schreibt Melčić. Sein Stil war geprägt von vulgären Ausdrücken, die er in die sehr formale Funktionärssprache einfließen ließ, wodurch sie einen Eindruck von Unmittelbarkeit und Bürgernähe gewann. Dies sei vergleichbar mit Trumps Twitteraussagen, mit denen er sich direkt und ohne Filter durch Medien an die Bevölkerung wendet. Melčić über politische Führer a la Milošević und Trump: „Was sie sagen ist oft glatt gelogen. Es wirkt aber verdammt ehrlich.“

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Quellen und links

Deutschlandfunk, Kommentar ‚Eine Lüge ist eine Lüge von Marco Bertolaso, 23.1.2017

Deutschlandradio Kultur, Interview mit Ekkehard Felder ‚Jeder Experte ist erst mal verdächtig‘, 23.1.2017

Deutschlandradio Kultur, Feuilleton von Dunja Melčić ‚Glatt gelogen wirkt verdammt ehrlich‘, 20.1.2017

über Donald Trump – wikipedia

über Slobodan Milošević – wikipedia

Meinungsfreiheit, freie Meinungsäußerung – Menschenrechte, Artikel 19 auf 1-sicht

Wessen die Marktmacht, dessen die Spielregeln?

Wer definiert in der globalisierten Handelswelt die Spielregeln? Sind es die (mehr oder weniger) demokratisch legitimierten Regierungen oder sind es die Konzerne selbst, die sich die Spielregeln geben – ungeachtet von Arbeits- und Menschenrechten?

Gemäß dem Befund des KONZERNATLAS 2017-Daten und Fakten über die Agrar- und Lebenmittelindustrie ist in dieser Branche die Macht der Konzerne erheblich. Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führt die Liberalisierung in der Agrarindustrie zu einer zunehmenden Oligarchisierung. Innerhalb jener Wirtschaftszweige, die der eigentlichen Agrarproduktion vor- bzw. nachgelagert sind, entwickeln sich insbesondere nach dem 2. Weltkrieg durch den Abbau von Handelshemmnissen einerseits und horizontalen wie vertikalen Übernahmen andererseits einige wenige global agierende Konzerne, die reichlich Einfluss auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen nehmen. Vorgelagerte Zweige sind beispielsweise  Produktion von Landmaschinen, Dünge- und Unkrautvertilungsmittel, nachgelagert ist insbesondere der Handel. Seit den 1980er Jahren sind diese Konzerne zunehmend weltweit tätig. Im Zuge des zu dieser Zeit aufkommenden Neoliberalismus, einer wirtschaftspolitischen Strömung, „die soziale Sicherheit im Namen des ökonomischen Primats opfere“ (wikipedia), werden in Entwicklungsländern staatliche Kontrollen über Rohstoffmärkte sowie Zölle und andere Handelshemmnisse abgebaut.

https://www.oxfam.de/system/files/styles/desktop_40x_100_percent_flex/private/konzernatlas2017_grafik_11a.jpg?itok=U2mBr4W6&timestamp=1483696806
Quelle: www.oxfam.de

Einige wenige Konzerne bestimmen die Trends in der Landwirtschaft und beim Nahrungsmittelkonsum. Laut KONZERNATLAS 2017 sind die umsatzstärksten Konzerne die folgenden (Daten aus 2015)

Industrie (Agrarproduktion und Lebensmittel)

  1. Nestlé
  2. PepsiCo
  3. JBS
  4. Coca-Cola
  5. Anheuser-Busch InBev

Handel (Food und Non-Food)

  1. Wal-Mart
  2. Cargill
  3. Costco
  4. Kroger
  5. Tesco

https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/bilder/presse/konzernatlas/konzernatlas2017_grafik_1_presse.jpg
Quelle: www.bund.net

Konzerninteressen stechen Arbeits- und Menschenrechte

Regierungen in Industrieländern folgen der Konzernlogik, die besagt, dass der Abbau von Handelshemmnissen sein müsse, um internationale Wettbewerbsfähigkeit zu ermöglichen. Sie verzichten auf wettbewerbsrechtliche Regelungen, die das Markt- und damit das Machtgefüge ausgleichen könnten. In manchen Ländern, darunter USA, wurden die Wettbewerbsordungen, die den Missbrauch marktbeherrschender Stellung, monopolbildende Fusionen, Kartellbildungen etc. verhindern sollten, sukzessive aufgeweicht (Deregulierung).

Zwar hat die Zivilgesellschaft erreicht, dass bezüglich Konsumentenschutz Bestimmungen in Kraft und einklagbar sind. Bezüglich fairer Bedingungen innerhalb der Lieferkette verlassen sich die Staaten jedoch auf freiwillige Verpflichtungen der Konzerne, die wohlklingend aber nicht einklagbar sind. Die Konzerne selbst sind bis in UN-Institutionen hinein vernetzt und gestalten Handelsabkommen eifrig und naturgemäß in ihrem Sinne mit.

Der KONZERNATLAS geht davon aus, dass Verletzungen der Arbeitsrechte in der Landwirtschaft der Regelfall sind. ILO-Normen geben zwar den ArbeiterInnen Rechte, sich zu organisieren,  Gewerkschaften zu bilden, verbietet Kinderarbeit; Artikel 20 der Allgemeinen Menschenrechte gewährt die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Doch Ansätze, diese Rechte durchzusetzen, werden oft brutal unterdrückt.

Forderungen an Konzerne zur Einhaltung der Menschenrechte

Was selbstverständlich sein sollte – dass Konzerne sich an die Menschenrechte halten – wird seit den 1990er Jahren seitens zivilgesellschaftlicher Initiativen verstärkt gefordert, unter anderem:

  • globale Regeln für Unternehmen, verankert bei den Vereinten Nationen
  • Verpflichtung der Staaten, Menschenrechte auch außerhalb der eigenen Grenzen zu schützen. Damit wären Staaten verpflichtet,  auf ihrem Staatsgebiet ansässige private Akteure an Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern zu hindern.
  • Implementierung eines internationalen Mechanismus, der Konzerne zur Rechenschaft ziehen kann.

Quellen und links

Konzernatlas 2017,
Herausgeber: Heinrich-Böll-Stiftung, Rosa-Luxemburg-Stifung, Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland, Oxfam Deutschland, Germanwatch, Le Monde diplomatique

Neoliberalismus – wikipedia

International Labour Organisation ILO

Versammlungs – und Vereinigungsfreiheit Artikel 20 AEMR – auf 1-sicht

Über Menschenrechte – auf 1-sicht

1-sicht findet: Lesen bildet.

1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand

1-sicht empfiehlt Lese-, Hör-, Sehstoff: Jänner 2017

Lesestoff:
Das Mädchen mit dem Fingerhut
Michael Köhlmeier

„… Sie weiß nicht einmal wie sie heißt. Wer nicht weiß, wie er heißt, der hat keine Mutter und keinen Vater. Mutter und Vater sagen den Namen. Immer sagen sie den Namen, weil sie ihn gern sagen und gern hören.  …“

Das sagt der Große zum Freund über die Sechsjährige.

Mit dem Roman ‚Das Mädchen mit dem Fingerhut‘ erfühlt man den Überlebenswillen und die Lebensklugheit, die Solidarität und die Brutalität von Kindern, die kein zu Hause haben, die von klein auf ihr Schicksal allein und zumeist auf der Straße meistern müssen.

Das Mädchen mit dem Fingerhut
Quelle: Hanser Literaturverlage

Hörstoff:
Das Mädchen mit dem Fingerhut
Michael Köhlmeier

Hörbuch, gelesen von Michael Köhlmeier

 

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Mit dem OCEAN-Modell im Big-Data-Ozean fischen

Oder: Welche Nachricht kommt zu mir und warum?

Der moderne Mensch hinterlässt ungezählte, mannigfaltige Spuren. Bei der Bezahlung mittels Karte, beim Sharen und Liken in Social Media, beim Nutzen des smartphones und anderer digitaler Anwendungen. Sehr zur Wonne der modernen Spurenleser wie Big-Data-AnalystInnen und PsychometrikerInnen sowie all jener, die die Bevölkerung punkto Kauf-, Wahl- oder sonstigem Verhalten beeinflussen wollen.

Mittels sogenanntem OCEAN-Modell – entwickelt in den 1930er Jahren – lassen sich aus dem unüberschaubaren Datenpool sehr zuverlässig sehr punktgenaue Persönlichkeitsprofile erkennen. Gemäß OCEAN sind 5 Aspekte für die Definition einer Persönlichkeit relevant:

  • Openness (Offenheit für Erfahrungen)
  • Conscientiousness (Gewissenhaftigkeit, Perfektionismus)
  • Extroversion (Extraversion, Geselligkeit)
  • Agreeableness (Verträglichkeit, Kooperationsfähigkeit, Empathie)
  • Neuroticism (Neurotizismus, seelische Verletzlichkeit)
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Fünf-Faktoren-Modell (OCEAN-Modell), Quelle: wikipedia

Brauchte es ehemals komplizierte Fragebögen, um die individuellen Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen wissenschaftlich fundiert ableiten zu können, liegen die Daten dank Internet und Social Media sozusagen griffbereit herum. Man braucht sie nur noch zusammenfügen. Das taten junge Forscher am Zentrum für Psychometrie an der Cambridge University in England (Michal Kosinski und andere). Mit einer kleinen App, die sie als Online-Persönlichkeitstest in Facebook verbreiteten, boten sie mit einigen wenigen Fragen ein Persönlichkeitsprofil an – und erhielten persönliche Daten in unerwarteter Menge. Bald verfügte man über den größten bis dahin je erhobenen psychologischen Datenbestand.

Online-Persönlichkeitstests als Quelle für psychologische Daten

Aus den Antworten der am Online-Persönlichkeitstest (MyPersonality) Teilnehmenden kalkulierten die Forscher die individuellen OCEAN-Werte, glichen sie mit allen möglichen anderen Daten wie Shares und Likes auf Facebook, Geschlecht, Alter ab und zogen daraus ihre Schlüsse.  2012 erbringen sie den Nachweis, dass man aus durchschnittlich 68 Facebook-Likes

  • Hautfarbe mit 95%iger Treffsicherheit,
  • geschlechtliche Orientierung mit 88%iger Treffsicherheit und
  • politische Orientierung mit 85%iger Treffsicherheit

bestimmen kann. Zudem ließen sich berechnen:

  • Intelligenz
  • Religionszugehörigkeit
  • Alkohol-, Zigaretten-, Drogenkonsum

Auf der Suche nach bestimmten Profilen – mit Mikrotargeting zum Wahlerfolg

Aus Daten werden Persönlichkeiten. Und: In Daten kann man definierte Persönlichkeiten suchen und finden. Der Forscher und Mitentwickler der Persönlichkeitstest-App Kosinski erkennt die Geister, die er rief und warnt fürderhin vor den Gefahren, indem er seine Arbeiten mit Hinweisen versieht: Mit seinen Methoden könne ‚das Wohlergehen, die Freiheit oder sogar das Leben von Menschen bedroht‚ werden. Eine Wahl-Management-Agentur erkennt die Chancen für ihr Portfolio ‚Marketing auf Basis eines psychologischen Modells, Schwerpunkt: Wahlbeeinflussung.‘

2015 – in Großbritannien sind die Brexit-BefürworterInnen engagiert und deutlich vernehmbar – wird bekannt, dass die ‚leave.eu‘-Kampagne unter Nigel Farage sich eines neuartigen Politmarketings, des so genannten Mikrotargetings auf Basis des OCEAN-Modells bedient.

Ein knappes Jahr später – genauen Polit-BeobachterInnen war die Ähnlichkeit zwischen ‚leave.eu‘ und der Wahlkampfagenda Donald Trumps aufgefallen – erfährt man, dass Trump sich im US-Präsidentschaftswahlkampf derselben Politmarketingfirma anvertraut hat, wie Nigel Farage (Cambridge Analytica). Das Unternehmen kombiniert 3 Elemente:

  • psychologische Verhaltensanalyse nach dem OCEAN-Modell
  • Big-Data-Auswertung (in USA sind persönliche Daten käuflich erwerbbar)
  • Ad-Targeting (profilspezifische individuelle Werbung)

Für Donald Trump macht sich die Politmarketingfirma nun gezielt auf die Suche nach

  • unentschlossenen RepublkanerInnen, um diese von Trump zu überzeugen
  • möglichen Clinton-WählerInnen, um diese von der Wahl abzuhalten.

Die WahlhelferInnen, die von Haus zu Haus und Tür zu Tür gehen, werden mit einer App ausgestattet, die zeigt, welcher Persönlichkeitstyp und welche politische Einstellung sie hinter der Tür erwartet. Der entsprechende Gesprächsleitfaden ist mit dabei, die Reaktionen werden in die App und damit in den Datenpool eingespielt.

Die Argumentation erfolgt so individuell wie möglich. Zum Bespiel sind im Zusammenhang mit Waffengesetzen folgende unterschiedliche Ansätze im Einsatz:

Für ängstliche Menschen mit hohen Neurotizismuswerten werden Waffen als Versicherung dargeboten. Das dazugehörige Bild zeigt eine  Hand, die auf eine Scheibe schlägt.

Für konservative Typen mit hoher Extraversion wird das gleiche Anliegen mit dem Bild eines Mannes und eines Kindes im Sonnenaufgang in einem Feld bereitet. Mann und Kind tragen eine Flinte.

Mögliche Clinton-WählerInnen werden durch Zuspielung entsprechender Nachrichten von den Wahlen abgehalten. Zum Beispiel sendete man den BewohnerInnen des Stadtteiles Little Haiti in Miami Nachrichten über das Versagen der Clinton-Stiftung beim Erdbeben in Haiti.

Ein Trump-Argument sei in 175.000 unterschiedlichen – nur in winzigen Details voneinander verschiedenen – Versionen in die Welt geschickt worden.

32 US-Persönlichkeitstypen?

Laut der Politmarketingfirma Cambridge Analytica leben in den USA 32 unterschiedliche Persönlichkeitstypen. Wer eine Vorliebe für in US gefertigte Autos hat, sei mit großer Wahrscheinlichkeit geneigt, Trump zu wählen. Deshalb habe sich dieser in der letzten Wahlkampfwoche des US-Präsidentschaftswahlkampfes 2016 auf Michigan und Wisconsin konzentriert. Schließlich hat Trump entgegen den Prognosen ‚herkömmlicher‘ Meinungsforscher die Wahl zum 45. US-Präsidenten gewonnen. Und in Großbritannien stimmte eine Mehrheit für den Ausstieg aus der EU.

Das Internet, so einst die Verheißung, mache volle Information für alle möglich und werde das demokratische Medium schlechthin sein. Da hat man wohl die Rechnung ohne den Algorithmus gemacht.

Quellen und links

Das Magazin: Ich habe nur gezeigt, dass es die Bombe gibt, 3. Dezember 2016, Hannes Grassegger, Mikael Krogerus

Zeit online: Big Data allen entscheidet keine Wahl, 6. Dezember 2016, Patrick Beuth

OCEAN-Modell: wikipedia

The Power of Big Data and Psychographics, Alexander Nix, youtube

Zeitung heute: Redaktion oder Rechenzentrum? 1-sicht

1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand