Für die Zustände in Aleppo gehen einem langsam die Worte aus, zu sagen, dass die Lage immer noch schlimmer und verzweifelter wird, das drückt kaum aus, was die Menschen dort durchleben. Seit Wochen greift die syrische Regierungsarmee, unterstützt vom russischen Militär, die Stadt mit aller Gewalt an. Weil Russland im Sicherheitsrat ein Vetorecht hat, können die Menschen in Aleppo von der UNO keine Hilfe erwarten. Russland hat eine Feuerpause für Aleppo einmal mehr blockiert.
Mit dieser Meldung startete man als Ö1-HörerIn am 6. Dezember 2016 in den Tag. Seit über 5 Jahren herrscht Krieg in Syrien. Das Magazin TIME veröffentlicht Anfang Dezember die einflussreichsten Fotos aller Zeiten. Das Bild, das den kleinen syrischen Buben – Alan Kurdi – tot am Strand liegend zeigt, gehört dazu. TIME nennt es ‚das Foto, das Grenzen öffnete‘. Es wurde von Nilüfer Demir 2015 aufgenommen. TIME schreibt darüber:
Der Krieg in Syrien dauerte bereits über 4 Jahre, als Alan Kurdis Eltern den Dreijährigen und seinen 5-jährigen Bruder in ein Schlauchboot hoben und von der türkischen Küste Kurs auf die knapp 5 Kilometer entfernte griechische Insel Kos nahmen. Aber nur wenige Minuter, nachdem sie sich abgestoßen haben, brachte eine Welle das Boot zum Kentern. Die Mutter und beide Söhne ertranken.
Einige Stunden später lag Alan am Strand. Es sah aus, als ob er schläft.
Das Foto verbreitete sich in Windeseile via social media. Es wurde das ikonografische Foto für einen Krieg, der zum damaligen Zeitpunkt bereits über 200.000 Menschen das Leben gekostet hatte – aufgenommen nicht im Kriegsgebiet sondern in Europa. Europäische Regierungen öffneten ihre Grenzen – die mittlerweile wieder geschlossen werden.
Doch der Krieg geht weiter. Die Fotos bleiben. Niemand kennt die Anzahl der Alans.
Bild links: Ein verletztes Mädchen in einem Behelfskrankenhaus nach Mörser- und Luftangriffen am 22. August.
Bild Mitte: Ein Mann trauert um seine Tochter, die bei einem Luftangriff am 24. August umkam.
Bild rechts: Ein verwundeter Junge wartet auf Hilfe nach Luftangriffen auf einen Markt und ein Krankenhaus
Diverse Präsidentschaftswahlen (USA, Österreich) und das stete Bemühen zahlreicher österreichischer PolitikerInnen, asylsuchende Menschen unter Hinweis auf Notstände von Österreich fern zu halten, lässt unter Umständen übersehen, dass
a) zum Beispiel in Syrien nach wie vor Krieg ist
b) Menschen nach wie vor versuchen, ihr Leben und das ihrer Lieben zu retten
c) die sogenannte Flüchtlingskrise somit nach wie vor besteht (nur für Österreich weniger unmittelbar ist als im Vorjahr)
d) anderenorts Menschen nach wie vor sehr unmittelbar solidarisch gefordert sind und sich um jene Menschen kümmern, die die Fahrt über das Mittelmeer bewältigen konnten.
Einer dieser Orte ist die griechische Insel Lesbos, die jüngst in den Medien hierzulande sehr knapp erwähnt war, weil in einem Flüchtlingscamp in Moria Feuer ausgebrochen ist, bei dem eine 66-jährige Frau und ein 6 Jahre altes Kind ums Leben kamen.
Lesbos für Friedensnobelpreis nominiert
Im August 2012 kamen die ersten Flüchtlinge in Booten auf Lesbos an. Seitdem hat sich das Leben auf der bei TouristInnen beliebten Insel erheblich verändert. Trotz der großen Krise, die Griechenland selbst durchmachte, entwickelten die Menschen auf Lesbos eine tatkräftige Hilfsbereitschaft – in Ausmaß und Ausdauer derart vorbildlich, dass sie für den Friedensnobelpreis 2016 nominiert wurden. Dieser ging zwar an den Präsidenten von Kolumbien, doch zwei der vielen Personen, die sich auf Lesbos humanitär engagieren (Kapitän Konstantinos Mitragas und Efi Latsoudi), wurden mit dem UNHCR’s Nansen Preis 2016 ausgezeichnet.
Alte Frauen kochten, kümmerten sich um Babys, halfen beim Wäsche waschen. Jüngere Menschen etablierten selbst organisierte Flüchtlingsunterkünfte. Lokale Fischersleute retteten Scharen von Menschen aus dem Wasser. Der Fotograf Daniel Etter schuf diesen Menschen mit seiner Ode an Lesbos ein berührendes Denkmal, das ob etwaiger eigener Untätigkeit auch eine gewisse Beschämung auszulösen im Stande ist.
Mit Status September waren es 93.600 Flüchtlinge, die allein 2016 auf Lesbos ankamen. Das sind etwas mehr Menschen, als auf der Insel leben. Die meisten Ankommenden versuchten, nach Athen zu ziehen. Mehr als 6.000 Asylsuchende leben auf Lesbos.
Die Bewohnerinnen und Bewohner von Lesbos scheinen ihre Hilfsbereitschaft als Selbstverständlichkeit zu verstehen. Das – so ein Erklärungsversicht – liege daran, dass sie selbst von Flüchtlingen abstammen. Rund 60 % der 90.000 EinwohnerInnen sind Nachfahren jener 1,2 Millionen Griechisch Orthodoxen Christen, die in den 1920er Jahren aus der Türkei vertrieben wurden.
„Das Undenkbare ist nur undenkbar bis es passiert“ – so leitet der Guardian am 9. November 2016 seinen Leitartikel ein. Donald Trump gewann die Wahl zum US-Präsidenten. „Ein schwarzer Tag für die Welt.“ (Guardian)
Zahlreiche politische Beobachter hielten es zu Beginn des Wahlkampfes für undenkbar, dass der politisch unerfahrene Milliardär und Demagoge Trump als Sieger der Vorwahlen der Republikaner ins Rennen gehen wird, geschweige denn, eine Chance auf den Wahlsieg haben kann.
Sein Diskreditieren staatlicher Institutionen und Prozesse, sein Lächerlichmachen der ‚political correctness‘, seine derbe Sprache, seine scharfen Feindbildzeichnungen und bewussten Polarisierungen, seine Kriegsrhetorik, seine zur Pose gemachte Ablehnung des Establishments (als dessen Vertreter er als Milliardär durchaus gelten kann) – alles gängige Instrumente im Werkzeugkasten populistisch agierender Personen – ging selbst vielen seiner Parteifreundinnen und -freunden zu weit und schien nicht mit den Werten der republikanischen Partei vereinbar. Anstoß für einige prominente RepublikanerInnen, sich öffentlich von ihm zu distanzieren, gaben in der Schlussphase des teils tief schmutzigen Wahlkampfes Trumps frauenverachtende und sexistische Aussagen. In der letzten TIME-Ausgabe vor der Wahl glaubt Charlotte Alter einen Trend weg von Trump (nicht notwendigerweise hin zur demokratischen Kandidatin Hillary Clinton) sogar bei streng christlichen, traditionell republikanisch wählenden Frauen zu erkennen. Die Mehrheit der Frauen, so die allgemeine Annahme, würde Trump aufgrund dessen Frauenbildes ohnehin nicht wählen und um die Wahl zu gewinnen, brauche man die Stimmen der Frauen (Bottom Lines, TIME, November 14, 2016).
Präsident Trump: Das Undenkbare ist Realität geworden
Es kam anders. Das einst Undenkbare ist nun Realität. Ein Mann ohne politische Erfahrung mit eigenwilligen Eigenschaften und beträchtlichem Potenzial, die Gesellschaft zu spalten, ist designierter 45. US-Präsident. Gewählt wurde er in hohem Maße von weißen Menschen, unabhängig von Geschlecht, Alter und Ausbildung. Es hat sich also weder die Annahme, Frauen wählen Trump nicht, noch die Annahme, Trump wird von jenen gewählt, die sich als Verlierer verstehen, als haltbar erwiesen.
Was haben die USA, was hat die Welt zu erwarten?
Trumps Programm: „Machen wir Amerika wieder großartig“. Was haben die USA und was hat die Weltgemeinschaft davon zu erwarten? Eine Einschätzung des Guardian:
Die Wahl Trumps fügt sich in die nationalistischen Tendenzen, die in der europäischen Gesellschaft sichtbar sind und im Brexit einen starken Ausdruck gefunden haben. Es kann erwartet werden, dass diese Tendenzen befeuert werden. Marine Le Pen, Parteichefin von Frankreichs Front National, zählte zu den ersten GratulantInnen Trumps. Heinz-Christian Strache, Parteichef der FPÖ, gratuliert via Facebook mit den Worten „Stück für Stück wird die politische Linke und das wirklichkeitsfremde und korrupte Establishment von den Wählern bestraft und von den Sitzen der Macht getrieben. Das ist gut, denn das Gesetz kommt vom Volk.“
Die Republikaner haben auch im Senat und im Repräsentantenhaus jeweils die Mehrheit und damit eine Machtfülle, wie es in den vergangenen 100 Jahren selten war. Ihre Vorstellungen für die Umgestaltung des Höchstgerichtes werden – über die Amtsperiode hinaus – großen Einfluss auf Themen wie Gleichberechtigung (Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung, …) und Abtreibung haben.
Im Wahlkampf beleidigte Trump Schwarze wie Muslime, Latinos wie Einwanderer. Er warb verdeckt antisemitisch. Seine WählerInnen werden nun entsprechende Taten verlangen, die den mühsamen Fortschritt der vergangenen 50 Jahre in Bezug auf Gleichberechtigung gefährden und fatal wirken können.
Das Wirtschaftsprogramm liegt im Dunkeln. Zwar versprach der Milliardär Trump, sich für jene einzusetzen, die sich zurück gelassen fühlen. Wie, das ließ er im Unklaren. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er protektionistische Maßnahmen setzt, die zwar Seinesgleichen zugute kommen, aber nicht jenen, die einst mit ihrer Arbeit in den Fabriken zum eigenen Wohlstand und dem des Landes beitragen konnten, dass er Webereien, Minen etc. reanimieren kann. Erwacht in den WählerInnen der Verdacht, Trump könnte sie und ihre Ängste für seinen Vorteil ausgenutzt haben, wäre Feuer am Dach.
Die größte Sorge gilt dem Guardian der Unsicherheit, die der neu gewählte Präsident für die Weltgemeinschaft bedeuten kann. Man schätzt dessen Kapazität zur Destabilisierung geradezu grenzenlos ein. Militärisch, diplomatisch, sicherheitspolitisch und in der Handelspolitik wohne das Potenzial inne, die Welt zum Schlechteren zu wenden.
So übertitelt Wilhelm Heitmeyer, der ehemalige Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, seinen Artikel in der Online-Ausgabe von der Freitag vom 13.10.2016, in dem er die sukzessive Entwicklung zu erhöhter Gewaltbereitschaft in Teilen der Gesellschaft analysiert: Das Destruktive in der Normalität
Die allerjüngste Vergangenheit Deutschlands war an geografisch weit auseinanderliegenden Orten mit unterschiedlichen Gewaltausbrüchen konfrontiert:
Brandanschlag auf Dresdner Moschee und Familie des Imam
Gewalt gegen den Bürgermeister eines kleinen Ortes
Drohungen gegen eine Lehrerin für Islamunterricht
Für den Konflikt- und Gewaltforscher sind diese Angriffe und Bedrohungen, die sich gegen sozial schwache Gruppen oder gegen jene, die sich für sie einsetzen, richten, die vorhersehbaren Folgen des jahrzehntelangen Eskalationsprozesses, mit dem Ziel, die Eliten in Politik, Journalismus und Zivilgesellschaft aufzustören. Heitmeyer spricht von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Er beschreibt 2 Arten von Mustern der Eskalation.
1. Prozess der Eskalation
Der Eskalationsprozess verläuft in 4 Stufen:
1.1. Provokationsgewinne, auf die die Medien reagieren.
Diese Reaktion bedeutet zusätzliche Resonanz für die Gewaltbereiten. Medien machen dabei mit, weil die Steigerung von Resonanz, das Aufschaukeln von Reaktion und Gegenreaktion deren eigener Verkaufslogik entspricht. Populistische Stimmungsmacher bieten daher sorgfältig abgewogen nicht ‚mehr vom Gleichen‘ – darauf würden Medien nicht reagieren – sondern steigern die sprachliche Aggression.
1.2. Raumgewinne auf öffentlichen Plätzen.
Auf derartige Demonstrationen von Macht gegenüber anderen Gruppen reagiert nach Heitmeyers Ansicht die Polizei unzureichend. Die Polizei lässt sich ihr Machtmonopol entreißen. Dies werten die gewaltbereiten Akteurinnen und Akteure als Erfolg.
1.3. Nach den Raumgewinnen folgen Räumungsgewinne.
Gewaltbereite verdrängen andere Gruppen – zum Beispiel Jugendliche aus Clubs, Flüchtlinge aus den zugewiesenen Unterkünften.
1.4. Die für die demokratische Kultur gefährlichste Stufe ist jene der Normalisierungsgewinne.
Was vor einigen Jahren noch undenkbar war, gehört mittlerweile zur Normalität. Auch manche PolitikerInnen äußern sich in einer fremdenfeindlichen Weise, wie dies bis vor Kurzem tabu war. Daraus, so Heitmeyer, entsteht das Destruktive in der Normalität. Denn was als normal gilt, wird nicht mehr problematisiert.
2. Zwiebelmuster der Gewaltbereitschaft
Die äußere Schale der gewaltbereiten Zwiebel stellen Teile der breiten Bevölkerung, die gruppenbezogen menschenfeindlich eingestellt sind. Sie liefern den radikalisierten Milieus die Legitimation. Befeuert werden diese von VertreterInnen der intellektuellen und politischen Eliten, die mit hochbrisanten Begriffen fahrlässig umgehen.
Die inneren, kleineren Schalen unterteilt die Konflikt- und Gewaltforschung in 3 Schichten:
rechtspopulistisches Milieu: hantiert gewaltfrei aber mit grenzwertigen Aussagen und stellt gewalterzeugende Begriffe bei
systemablehnendes Milieu: hantiert zum Teil bereits mit Gewalt
neonazistische Unterstützungsnetzwerke: agieren mit hoher Gewaltbereitschaft und sogar terroristischen Zellen
Die Übergänge sind fließend. Laut Heitmeyer hat sich zudem in den letzten Jahren mitten in der Gesellschaft eine ‚rohe Bürgerlichkeit‘ gebildet.
4 zentrale Themen der schleichenden Brutalisierung
Für die Bielefelder Gewalt- und Konfliktforscher hat sich die Zunahme der Brutalisierung in der Gesellschaft lange angekündigt. Zu Grunde liegen 4 zentrale Themen:
die Angst vor sozialer Desintegration in einem autoritären kapitalistischen System
die Angst vor kultureller Überfremdung
die politische Entfremdung, wahrgenommen als Demokratieentfremdung
die De-Nationalisierung von Politik (‚Brüssel‘)
Gewaltfördernder Katalysator war die Fluchtbewegung der Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten nach Europa.
„Wie teuer ist das?“ so lautet der Titel einer Reportage in DIE ZEIT vom 29. September 2016 von Martin Klingst über die gehaltenen und nicht gehaltenen Zusagen für die syrische Flüchtlingshilfe.
Darunter dieses Bild samt Grafik:
Die Grafik zeigt, wie viel Geld für die syrische Flüchtlingshilfe 3RP (Regional Refugee Resilience Plan) sowie dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR zugesagt wurde. Und wieviel davon schon bezahlt ist.
Für 3RP wurden im Februar 2016 auf einer Geberkonferenz in London von 70 Staaten 4,54 Mrd. US-Dollar zugesagt. 47,6 % sind laut OCHA (UN-Büro für humanitäre Angelegenheiten) davon bezahlt. Der größte Betrag (611 Mio. US-Dollar) stammt von Deutschland. Es folgen USA, Europäische Kommission, Großbritannien, Japan, Kanada, Private Spender (mit 76,4 Mio. US-Dollar), Norwegen, Frankreich, Niederlande.
Diese Unterfinanzierung bestätigt das UNHCR. Es hätte vom 3RP-Programm 1,3 Mrd. US-Dollar bekommen sollen, eingelangt sind 746 Millionen.
Die UN schätzt, dass insgesamt 5,78 Milliarden Dollar heuer aufzubringen sind, wenn man die aus dem Kriegsland Syrien geflüchteten Menschen in den Aufnahmeländern Libanon, Jordanien, Türkei, Irak und Ägypten versorgen möchte. Gelingt dies nicht, werden sich wieder Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machen.
Übrigens: Das Bild oben zeigt das Flüchtlingslager Saatari. Es ist mittlerweile die viertgrößte Stadt Jordaniens.
Der Titel dieser 1-sicht ist entlehnt: DIE ZEIT Nr. 39, 15. September 2016 bringt unter dem Titel ‚Wie mit der AfD umgehen?‘ 9 Thesen – gerichtet an Medienleute – die zu mehr Gelassenheit aufrufen. 1-sicht findet, einige dieser Thesen könnten auch für den Umgang mit der rechtspopulistischen Partei in Österreich Anregung sein und fasst den Debattenbeitrag zusammen:
Nicht immer dazusagen, wie schlimm sie ist
Formulierungen wie ‚die rechtspopulistische …‘ unterlassen, denn dadurch werde vermittelt, dass egal ist, was nun folgt. Die Abgrenzung zwischen ‚die rechtspopulistische …‘ und ‚die demokratischen Parteien‘ nicht überstrapazieren.
Statt dessen: Argumente bieten.
Sie nicht mit Rechtsextremen und Neonazis gleichsetzen
Eine pauschale Gleichsetzung mit Rechtsextremen und Neonazis verstelle den Blick auf die dringend gebotenen Nachweise der konkreten Grenzüberschreitungen. Die Dämonisierung bestärke die Dämonisierten (Partei und ihre AnhängerInnen) in der Paria-Rolle.
Nicht auf jede Provokation einsteigen
Die Partei proviziert und freut sich über die Echauffierung. Diesen Kreislauf gilt es zu durchbrechen.
Zu einer Normalisierung gehört, dass JournalistInnen den gezielten Provokationen Inhalt, Analyse und Fakten entgegnen.
Raus aus der Spirale der Beleidigungen
JournalistInnen werden von Funktionären der Partei verächtlich gemacht und sind, menschlich verständlich, beleidigt. Es wird verbal zurück geschossen, die Schüsse treffen Funktionäre wie WählerInnen. Dies sollten die Medienleute vermeiden.
Mit Fakten und guten Argumenten gegen Verschwörungstheorien
Gut mit Fakten versorgte LeserInnen können im Pausengespräch, am Stammtisch oder wo auch immer Verschwörungstheorien und Falschmeldungen argumentativ verpuffen lassen. Dazu braucht es gründliche Recherche seitens der JournalistInnen.
Transparent machen, wie Journalisten arbeiten
‚Lügenpresse‘ – die Einen streuen diesen Vorwurf bewusst, die Anderen wissen nicht, wie seriöse Medien arbeiten und glauben den Einen. Diesen Anderen könnte durch das Offenlegen der Arbeitsweise seriöser Medien Unkenntnis genommen und Vertrauen gegeben werden. Wer erfährt, wie ein Bericht zustande kommt, was Hintergrundgespräche sind, wie Autorisierungen ablaufen etc., gewinnt Verständnis.
Eigene Irrtümer eingestehen, valide Argumente anerkennen
Niemand hat die Weisheit gepachtet. Auch JournalstInnen müssen Ahnungslosigkeit gegebenenfalls eingestehen. Und es gilt: Ein Argument wird nicht dadurch schlecht, dass es von jemandem vertreten wird, den man ablehnt. Ein gutes Argument zählt, auch wenn es von der ‚falschen Seite‘ kommt. Umso glaubhafter kann man sagen, wo das Gegenüber falsch liegt.
Gewöhnliche Menschen zu Wort kommen lassen
In unserer Welt der professionellen Meinungsbildung klingen Argumente und Gegenargumente oft erwartbar, eingeübt und reflexhaft. Die Bildung der öffentlichen Meinung scheint denjenigen vorbehalten, die sich kraft Amt oder Beruf dazu befugt sehen. Die Enttäuschten fühlen sich von den Etablierten übersehen und werden wütend. Sie müssen gehört und ernst genommen werden.
Die Partei weder vergrößern noch ausgrenzen
Zwei Obsessionen werden konstatiert:
a) Berichterstattung in einem Ausmaß, als wäre dies das wichtigste Thema
b) Ausgrenzung im Sinne von ‚wir gegen die‘, ‚uns‘ versus ‚denen‘, als gäbe es keine Gemeinsamkeiten. Dies macht die Partei tatsächlich zu jener Fundamentalopposition, die sie vorgibt, zu sein. Ausgrenzung wird aber nicht zum Verschwinden sondern zur Stärkung führen, zumal die Partei die Ausgrenzung provoziert, weil sie davon lebt und ebenfalls das ‚wir gegen die‘ beschwört.
Deshalb ist es wichtig, sie zunächst als das zu betrachten, was sie ist: eine Partei, die alles infrage stellt, aber selbst noch nicht gezeigt hat, dass sie irgendetwas besser kann. Es ist Zeit, die AfD bei der Verantwortung zu packen, statt ihre Politiker zu Aussätzigen zu erklären. Um sie nicht größer zu machen, als sie ist. (DIE ZEIT, 15. September 2016, Anne Hähnig und Martin Machowecz)
Quellen und links
DIE ZEIT, Ausgabe Nr. 39, 15. September 2016, Anne Hähning und Martin Machowecz, www.zeit.de
Wer heute Entscheidungen trifft, nachdem er Meinungsforscher zu Rate gezogen oder Parteimitglieder befragt hat, gilt schnell als populistisch. Und das ist mitnichten anerkennend gemeint. Warum sind Populisten in demokratischen Kreisen verdächtig, jemand der populär ist, aber durchaus angesehen? Es stammen doch beide Begriffe vom lateinischen Wort „populus“ (Volk) ab.
Walter Ötsch, Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte, beschäftigt sich seit Jahren mit politischer Kommunikation. Sein Werk ‚Haider light – Handbuch für Demagogie‘ gilt als Standardwerk zum Umgang mit Populisten. Ötsch zeigt das Konzept von Populismus auf. Dieses geht tiefer, als mit dem Begriff populistisch gemeinhin gemeint ist. Und es ist tatsächlich mehr als fragwürdig.
Populistische, also vom Volk ausgehende Bewegungen, so Ötsch, sind kein Phänomen unserer Zeit. Auch beispielsweise die US-Farmer-Bewegungen Anfang des 19. Jahrhunderts und die russischen Volkstümler (narodniki) im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sind als populistisch zu bezeichnen. Eine Gruppe vereint sich gegen eine als Elite wahrgenommene andere Gruppe und versucht, das eigene Interesse – das Interesse des ‚Volkes‘ – durchzusetzen.
Obwohl sich populistische Bewegungen – man beachte die Vermeidung des Begriffes Partei, dazu später – in vielerlei Hinsichten unterscheiden, erkennt man Gemeinsamkeiten, von Ötsch Dimensionen des Populismus genannt:
technische Dimension: vereinfachender Politstil, bilderreiche Sprache, die eine direkte Verbindung zum ‚Volk‘ (zu den einfachen Leuten) konstruiert, agitatorische Haltung, spontane Eklats gegen das ‚Establishment‘
inhaltliche Dimension: mobilisierungsfähige Protest-Themen, imaginäre Missstände und Krisen
mediale Dimension: symbiotische Nutzung der Massenmedien mit Blick auf Schlagzeilen positiver wie negativer Art
Vorstellungswelten von PopulistInnen
Ötsch erklärt die populistischen Vorstellungswelten basierend auf dem Modell der sozialen Panoramen des Psychologen Lucas Derk. Der Mensch stellt andere Menschen instinktiv und von klein an in eine gedankliche Nähe oder Ferne. Mit der Zeit entstehen in der Vorstellung jedes Individuums Räume, innere Landschaften, in denen die anderen Personen positioniert sind. Ein Ansatz mit zahlreichen Implikationen von denen im Folgenden auf die Auswirkungen auf die Sprache eingegangen wird.
Populistische Sprache
Die sozialen Panoramen haben Einfluss auf Sprachbilder bzw. finden sich darin wider. Ergo kann von der Sprache auf die Vorstellungswelt geschlossen werden. Populistische Sprache zeichnet sich durch Gegenüberstellungen aus wie:
Volk versus Elite
oben (Staat, Parteien, politische Klasse, …) versus unten (Volk, Gesellschaft, Bewegung, …)
System versus kleine Leute
Nation versus Ausland
leistungsorientierte Bürger versus Sozialschmarotzer
erfolgreiche Betriebe versus leistungsfeindliche Bürokratie
WIR versus DIE
Dabei wird so getan, als wäre jede der beiden einander gegenüber gestellten Gruppen in sich homogen. Dies widerspricht fundamental dem Parteienprinzip demokratischer Gesellschaften. Das Wort Partei kommt von „pars“ (lateinisch für Teil). Parteien vertreten per definitionem nicht die Meinung aller (Zeit, 15. September 2016, ‚Wer spricht für das Volk?‘). Parteien müssen Konflikte austragen, Mehrheiten bilden.
Demagogisches Panorama
Die populistische Rhetorik zeichnet laut Ötsch das Bild einer strikt geteilten Welt, wobei die beiden Teile einander feindlich gegenüber stehen (demagogisches Panorama) und die Abstände weit über die üblichen Distinguierungen (Alte : Junge, Österreicher : Deutsche, …) hinaus gehen. Zwei Gestaltungsprinzipien fördern das demagogische Panorama:
Logik der Äquivalenz: unterschiedliche Menschen innerhalb einer Gruppe werden ähnlich gemacht
Logik der Differenz: die Hauptmerkmale von WIR und DIE sind völlig unterschiedlicher Art
Dies kann in Extremfällen dazu führen, dass die DIE wie Wesen einer anderen Spezies oder völlig depersonalisert dargestellt werden (vergl. ‚Kakerlaken’rhetorik der Hutu in Vorbereitung des Genozids an den Tutsi in Ruanda 1994, Verunglimpfungen und verbale Entmenschlichung von Bevölkerungsgruppen durch die Nationalsozialisten).
Ötsch illustriert dieses duale Demagogie-Bild anhand von FPÖ-Wahlplakaten zum Beispiel:
Daham statt Islam
Heimat statt EU-Diktat
Deutsch statt nix verstehn
Es versteht sich fast von selbst, dass im populistischen Weltbild WIR immer gut, DIE immer schlecht, WIR die Opfer, DIE die Täter sind. Entsprechend normiert ist die Sprachregelung. Dazu kommt: Gefühle werden durch Erzählen von Einzelfallgeschichten angeheizt, die Einzelfälle verallgemeinert. DIE müssen als Sündenböcke für Probleme und Krisen aller Art herhalten, WIR sind die Verheißung der besseren Welt.
Da die Kategorisierung in DIE und WIR reine Willkür ist, braucht eine populistische Bewegung ein äutoritäres Führungsprinzip. Es kann keine wirkliche Auseinandersetzung innerhalb der WIR geben, es entscheidet ein ‚Führer‘, eine ‚Zentrale‘.
Sicherheitsversprechen
Populistische Rhetorik schafft für Menschen, die in Unsicherheit leben oder zu leben meinen, Klarheit. Da diese vermeintliche Klarheit auf willkürlichen Kategorisierungen und nicht auf Fakten basiert, kann Realitätsverlust die Folge sein, was wiederum PopulistInnen Vorschub leistet.
im Spannungsfeld zwischen Liberalismus, Angst, Religionsfreiheit und Frauenrechten.
Deutsche und internationale Presseschau des Deutschlandfunk.de vom 27. August 2016 geben einen guten Überblick über die Vielfalt an Meinungen im Zusammenhang mit dem Burkini-Verbot in einigen französischen Städten:
„Wie nennt man das eigentlich, wenn bewaffnete Typen eine Frau zwingen, ihre Klamotten auszuziehen. Vorbereitung einer Vergewaltigung? Nötigung? Öffentliche Demütigung? In Frankreich nennt man das ‚Polizeieinsatz‘. An einem Strand von Nizza haben drei Polizisten eine Frau gezwungen, Teile ihrer Kleidung abzulegen. Sie hatten die Macht des Staates hinter sich, die Stadt Nizza mit ihrem Verbot und den französischen Premierminister, der sagte, der Burkini sei ein Symbol einer ‚Gegengesellschaft, die auf Versklavung der Frau gründet‘. Knallharter Schutz vor Versklavung auch gegen den Willen der Schutzbefohlenen. Die Muselmanin, das rückständige Weib, wusste noch nie, was gut für sie ist“. (TAGESZEITUNG).
„Na prima. Französische Kommunalpolitiker und Polizisten haben islamistischen Propagandaplattformen weltweit einen PR-Coup frei Haus geliefert: Was illustriert die angebliche Demütigung sämtlicher Muslime im Westen anschaulicher als jene Bildsequenz aus Nizza, in der eine muslimische Frau am Strand von Beamten dazu gebracht wird, ihr kapuzenartiges Oberteil abzulegen?“ (KÖLNISCHE RUNDSCHAU)
„Warum soll die Bedeckung des Körpers durch weit geschnittene Schwimmanzüge islamischer Frauen verboten sein, die Bedeckung des Körpers durch eng anliegende Neopren-Anzüge westlicher Kite-Surferinnen aber nicht? Eine solche Debatte driftet in Richtung Absurdistan.“ (MÄRKISCHE ALLGEMEINE)
„Schön ist er nicht, der Burkini – der Ganzkörperbadeanzug für Frauen, der nur Gesicht, Unterarme und Füße ausspart. Aber schön ist der korpulente Mitsechziger im Stringtanga auch nicht – jedenfalls nach gängigen ästhetischen Vorstellungen. Doch darf eine freie Gesellschaft einfach verbieten, was nicht gefällt?“ (WESTFALEN-BLATT)
„Auch eine liberale Gesellschaft muss es nicht hinnehmen, dass unerkennbare Gestalten durch Einkaufszentren schlendern oder sich in Straßenbahnen setzen, egal ob es um Leute unter einer Burka geht, mit Motorradhelmen oder Clownsmasken. Ein Eingriff bedeutet hier keine Diskriminierung entlang religiöser Trennlinien, sondern nur die Durchsetzung der allgemeinen Sitte.“ (HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG)
„Gegen das Geschrei über den drohenden Zerfall Frankreichs, wider das Gezeter über den vermeintlichen Untergang des Abendlandes hat sich die Stimme der Vernunft durchgesetzt.“ (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG – bezogen auf das Grundsatzurteil des Obersten Verwaltungsgerichtes Frankreichs, mit dem das Burkini-Verbot für unrechtmäßig erklärt wurde)
„Ein Funke der Vernunft war das in einem erschreckenden emotionalen Dunkel.“ (BERLINER ZEITUNG – bezogen auf das Grundsatzurteil des Obersten Verwaltungsgerichtes Frankreichs, mit dem das Burkini-Verbot für unrechtmäßig erklärt wurde)
„Die Burkini-Verbote an französischen Stränden waren eine Farce. Nur gut, dass dieser Bekleidungs-Dschihad nun gerichtlich gestoppt wurde. Die Ressentiments freilich, die zu solchen fundamentalistischen Eingriffen in die Grundrechte geführt hatten, sind virulent. Der Laizismus wird zum Instrument der Diskriminierung. Was war zuerst da, die Abschottung von Muslimen oder ihre Stigmatisierung?“ (DER TAGESSPIEGEL – bezogen auf das Grundsatzurteil des Obersten Verwaltungsgerichtes Frankreichs, mit dem das Burkini-Verbot für unrechtmäßig erklärt wurde)
„Passt Euch an! Benehmt Euch wie wir! Zieht Euch an wie wir! …….. Und wenn die Befehle nicht unmittelbar fruchten, bist der Ruf nach Gesetzen nicht weit: Minarette verbieten! Integrationspflicht! Wohnsitzauflage! Doppelpass verbieten! Burka verbieten! Diese Haltung schiebt das Problem der Integration, das eines der ganzen Gesellschaft ist, einseitig den Migrantinnen und Migranten zu.“ (NEUE WESTFÄLISCHE)
Auch aus Sicht der RHEINISCHEN POST wird die Debatte zu einseitig geführt: „Die klare Abgrenzung der Muslime vom Rest der Gesellschaft ist auch Ergebnis ihrer misslungenen Integration. Die Nachfahren der nordafrikanischen Einwanderer sind meist Bürger zweiter Klasse geblieben. Um die Abgrenzung noch weiter zu treiben, fordern Konservative und Rechtspopulisten nun gemeinsam ein gesetzliches Burkini-Verbot.“ (RHEINISCHE POST)
Internationale Medien zum Burkini-Verbot in Frankreich bzw. dessen höchstgerichtliche Aufhebung
„Das Gesetz und der gesunde Menschenverstand haben gesiegt. Auch wenn einige Bürgermeister in anderen Kommunen an ihren Burkini-Verboten festhalten wollen, auch sie werden aufgehoben werden, wenn ihr Fall vor den Staatsrat kommt. Sicherheitskräfte müssen an den Stränden nicht mehr Badeanzug-Polizei spielen. Das Urteil ändert nichts daran, dass man bestimmte islamische Kleidung als Zeichen einer archaischen Interpretation des Islams sehen kann. Doch der Staatsrat erinnert daran, dass die öffentlichen Freiheiten in einer Republik wie Frankreich respektiert werden müssen.“ (LIBÉRATION, Paris)
„Wie kann es sein, dass ausgerechnet in Cannes – am selben Strand, an dem 1953 Brigitte Bardot so publikumswirksam in einem Bikini posierte -, dass dort Frauen erzählt werden darf, was sie tragen können und was nicht?“ …. „Nizza ist eine Stadt, die immer noch traumatisiert ist von dem Terrorangriff im Juli und in der es Anzeichen für ethnische Spannungen gibt. Es ist möglich, dass der dortige Bürgermeister begründete Sorge hatte, dass rassistische Menschen eine Frau im Burkini angreifen könnten. Natürlich muss man dazu sagen, dass es die Aufgabe der Polizei ist, die öffentliche Ordnung zu wahren, nicht der Frauen und ihrer Kleiderwahl. Die Entscheidung des Gerichts wird hoffentlich einer aufgewühlten Nation ein bisschen Raum zum Atmen verschaffen.“ (GUARDIAN, London)
„Ein Sieg der Gerechtigkeit und der individuellen Freiheit“ … „Das Verbot von Burkinis wäre der größte Dienst gewesen, den Frankreich dem Islamischen Staat und Al-Kaida hätte erweisen können. Es hätte in den muslimischen Gemeinden die Saat des Hasses gelegt, die Kluft zwischen den Muslimen und der übrigen Bevölkerung vergrößert und so die Rekrutierungsarbeit dieser Gruppen erleichtert. All diejenigen, die die Muslime in Frankreich auffordern, Gesetze und Kultur des Landes zu respektieren und sich dabei noch päpstlicher als der Papst geben, sollten sich nun schämen. Mit dem Entschluss, das Verbot aufzuheben, hat Frankreich sein Gesicht gerettet.“ (RAI AL-YOUM, London).
„Der Versuch, Terror mit Bekleidungsvorschriften zu verhindern, ist zum Scheitern verurteilt. Trotzdem versucht man es in Frankreich immer wieder. Das lokale Burkini-Verbot im südfranzösischen Villeneuve-Loubet hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt, nachdem Polizisten eine Frau am Strand zwangen, sich auszuziehen. Natürlich steht hinter dem Verbot der schreckliche Anschlag in Nizza, ebenso der Terror in Paris. Aber Frankreichs Politiker rüsten sich für den Wahlkampf, und da ist kein Argument absurd genug – es gibt wohl kaum ein Kleidungsstück, das so ungeeignet ist, um Bomben zu verstecken, wie ein Burkini.“ (UPSALA NYA TIDNING, Uppsala)
„Das Burkini-Verbot und wie es durchgesetzt wurde, erscheint vielen Amerikanern barbarisch. Zwischen all dem Ts-Ts sollte man sich aber daran erinnern, dass die Gesetze in Frankreich so manchem in den USA nicht so unähnlich sind. Muslime werden darüber hinaus im öffentlichen wie im privaten Raum diskriminiert. In der Demokraten-Hochburg Massachusetts, haben Bewohner verhindert, dass eine marode Farm in einen islamischen Friedhof umgewandelt wird. Hintergrund war die zweifelhafte Theorie, dass muslimische Körper eine besondere Bedrohung für die Gesundheit darstellten. Gleichzeitig fordert die Leitfigur von Amerikas anderer politischer Partei ein Einreiseverbot für Muslime. Während wir über den Atlantik schielen und über den säkularen Sexismus der Franzosen spotten, sollten wir uns daran erinnern: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ (USA TODAY, Arlington)
Im Nachklang der Anschläge, Amokläufe und Morde in Bayern, die Ende Juli innerhalb weniger Tage stattgefunden haben, ist – wieder einmal – die Diskussion darüber entbrannt, welche Rolle Medien bei der Berichterstattung über TäterInnen, Tathergänge, Tatziele etc. einnehmen sollen, worüber und wie sie berichten sollen. Im Folgenden drei Diskussionsbeiträge aus deutschen Medien.
In der Süddeutschen Zeitung schreibt Ronen Steinke unter Berufung auf Erkenntnisse aus der Kriminalpsychologie, deren es in den USA traurigerweise dank höherer Fallzahlen mehr gibt, als bislang in Europa, über erkennbare Muster von Nachahmung und TäterInnen, die vor allem eines suchen: Aufmerksamkeit. Er nennt Forschungsergebnisse der Statistikerin Sherry Towers:
Amokläufe an Schulen, in Kinos oder in Gemeindezentren ereignen sich nicht gleichmäßig über die Jahre verstreut wie andere Verbrechen. Sondern es gibt immer wieder kleinere Wellen von ihnen.
Nach einem Amok-Verbrechen, so schrieb Towers in einem im Juli 2015 veröffentlichten Fachaufsatz gemeinsam mit vier Ko-Autoren, gebe es durchschnittlich 13 Tage lang ein messbar – um 22 Prozent – erhöhtes Risiko von weiteren Amoktaten im Land. Erst danach sinke die Wahrscheinlichkeit wieder. Vierzig Prozent der Taten, so zählt die Wissenschaftlerin, folgten unmittelbar auf eine andere Tat in den zwei Wochen zuvor. Und einzelne, besonders spektakulär in Szene gesetzte Amok-Schießereien schienen sogar Trends zu setzen: Nach dem Massaker in einem Kino in Aurora am 20. Juli 2012 etwa schlugen gleich zwei weitere Schützen in Kinos zu, einer in Louisiana, einer in Tennessee, beide innerhalb von nur zwei Wochen.
Ansteckung latent tatbereiter Menschen
Towers geht davon aus, dass potentielle Täter via Medien zur Nachahmung „angesteckt“ werden. Ihre These lautet, je umfangreicher die Medienberichterstattung sei, desto wahrscheinlicher sei die Ansteckung eines „nachahmungsgeneigten Menschen“, je plastischer Reportagen seien, desto höher das Nachahmungsrisiko, da Identifikation mit dem Täter besser möglich sei.
Kriminalpsychologen argumentieren seit langem, Gesichter von AmoktäterInnen nicht scharf zu zeigen und deren Namen nicht zu nennen, damit die Intention potentieller TäterInnen, Aufmerksamkeit zu erlangen, konterkariert werde.
Ähnliche Erfahrungswerte gäbe es zur Berichterstattung über Suizide. Deshalb hätten Zeitungen in den USA und Deutschland sich selbst verpflichtet, mit plastischen Details zurückzuhaltend umzugehen.
In der Welt diskutiert Medienredakteur Christian Meier die Entscheidung der Le Monde, keine Bilder von Terroristen mehr zu zeigen, um deren Glorifizierung hintanzuhalten und keinen Rahmen für eine solche zu bieten. Ein grundsätzliches ‚Bilderverbot‘ von TäterInnen geht seines Erachtens zu weit. Er spricht sich gegen starre Regeln und für kontextbezogenes Vorgehen sowie für Skepsis gegenüber den Botschaften der Bilder aus.
Meier hält die Vorgehensweise der Zeitung B.Z., dem Täter, der in München Menschen mordete, die Titelseite zu verwehren, für angemessener. Im Innenteil berichtete die Zeitung sehr wohl samt Bild. Laut Meier müsse man sich „ein Bild von einem Mörder machen können“.
Dilemmata von JournalistInnen
Bereits 2015 referierte der ZEIT-Redakteur Yassin Musharbash bei der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes in Mainz über die Dilemmata der JournalistInnen bei der Berichterstattung über Terrorismus, im konkreten Fall des IS-Terrorismus. Laut Musharbash kalkulieren TerroristInnen die Reaktionen der Medien vorab mit ein. Machen sich also Medien, die über Terrorakte berichten, unwillentlich zu Multiplikatoren für die Sache der TerroristInnen? Befördern sie den „Werther-Effekt“, wie BKA-Kreise den Nachahmungs- bzw. Nacheiferungsdrang auch im Falle von Terror und Mord nennen? Musharbash hält es für richtig, über Terrorakte zu informieren, es sei das Recht der Bevölkerung, informiert zu werden. Es sei jedoch zwingend, sich als JournalistIn Unabhängigkeit zu bewahren, also nicht etwa ausschließlich IS-eigene Quellen als Recherchequellen zu nutzen, und gegebenenfalls Lücken in der Recherche, Nicht-Wissen zu benennen. Es sei das Ziel guten Journalismus, mündige BürgerInnen darin zu unterstützen, sich ein Bild von der Welt zu machen.
Journalistinnen und Journalisten sind keine Terrorbekämpfer. Wir sind Berichterstatter. Wir können nicht Teil von Strategemen sein, die manchmal unter beschönigenden Namen wie „counter narratives“ oder „Gegenerzählungen“ fingieren. Das ist nicht unsere Rolle. Propaganda und Gegen-Propaganda, Narrative und Counter-Narrative, Anklage und Verteidigung: Das sind alles Begriffspaare, die von einer schwarz-weißen Welt ausgehen. Unsere Aufgabe ist aber es, eine reale Welt voller Grautöne zu beschreiben.
Lesestoff: Die schwarze Macht – Der „Islamische Staat“ und die Strategen des Terrors
Der „islamische Staat“ (IS) gilt als gefährlichste Terrororganisation weltweit. Wie es dazu kommen konnte und was ihn so gefährlich macht, zeigt Christoph Reuter, der sich laut F.A.Z. jahrelang fast ausschließlich dem Bürgerkrieg in Syrien gewidmet hat und seit dem Beginn des Aufstands gegen den syrischen Diktator Baschar al Assad immer wieder auf lebensgefährlichen Reisen in der syrischen und irakischen Krisenregion unterwegs war. Der IS sei keine Horde unaufhaltsamer Gotteskrieger sondern pragmatisch, zu Ablasshandel bereit und mutationsfähig.