Über Herausforderungen und Chancen der aktuellen Migrationen – Beitrag 1

Zu den Flucht- und Wanderbewegungen sind bereits einige 1-sichten online. Diese und 2 folgende betrachten das Phänomen aus philosophischen Perspektiven.

Im Dossier ‚Was tun?‘ des Philosophie Magazins vom Februar 2016 kommen 27 Frauen und Männer – aus Philosophie, Soziologie, Rechtswissenschaft und anderen Professionen – zu zentralen Fragen des Flüchtlingsmanagements zu Wort. Man geht auf Ängste und Sorgen, die im Zusammenhang mit den Migrationen auftreten, ein und will die Gestaltungskraft beflügeln.

Die Wanderbewegung des Jahres 2015 (60 Millionen Flüchtlinge weltweit) wird als Anfang eingestuft, angesichts der hohen Zahl Wanderungswilliger könnte die Unterscheidung in Kriegs-, Wirtschafts- und Klimaflüchtlinge rein akademisch wirken. Die sogenannte Flüchtlingskrise löste in der Bevölkerung eine Dynamik in 2 Richtungen aus: hier tätige Solidarität, außerordentliche Spenden- und Hilfsbereitschaft, da die Verdoppelung fremdenfeindlicher Anschläge binnen 1 Jahres und erhöhter Zuspruch zu rechtspopulistischen Parteien.

Wolfram Eilenberger ermuntert in der Einleitung dazu, der Komplexität und Dynamik damit zu begegnen, die eigene Perplexität einzugestehen und sich zu erlauben, Fragen zu stellen. Mit dem Dossier wird ein Beitrag geleistet. Folgende Themen sind aufgeworfen:

  1. Unsere Verantwortung
  2. Wer sind wir?
  3. Wie schaffen wir das?

Zu diesen Themen sind jeweils konkrete Fragen gestellt. 1-sicht greift die – subjektiv – wesentlichsten Aspekte aus den Antworten auf und fasst sie in 3 Blogbeiträgen als Erweiterung bisheriger 1-sichten zum Phänomen Migrationen zusammen. Dieser Beitrag widmet sich dem ersten Thema:

Unsere Verantwortung

Im Angesicht des Leids

Ist das Konzept einer ‚globalen Verantwortung‘ notwendig eine Überforderung?

Verantwortung im Sinne einer klaren individuellen Zurechnung von Handlungsfolgen wird zur Überforderung, wenn sie global gemeint ist. Jedoch ist es geboten, sich mit Schicksalen anderer Menschen in fernen Regionen verbunden zu fühlen. Andernfalls wäre eine innere Verhärtung die Folge. Daraus resultierte eine Veränderung des eigenen Wertesystems und in der Folge eine Vereinzelung der Person. Hingegen lässt Verbundenheit zu, sich als Teil eines lebendigen Geschehens zu verstehen. Daraus erwächst Motivation (nicht nur abstrakte Verpflichtung) für ein Handeln, das globale Zusammenhänge mit einschließt.

Hartmut Rosa; Professor für Philosophie an der Universität Jena

Sollen wir uns in unserer Haltung gegenüber den Flüchtlingen eher von rationalen Überlegungen oder von Gefühlen leiten lassen?

Verstand und Gefühl müssen sprechen, um die Welt deuten zu können. Im Falle der nach Europa wollenden Flüchtlinge könnte das heißen, das Gefühl setzt den Impuls zu helfen – zumal wenn die eigene Biografie Fluchterfahrungen enthält, und der Verstand sieht in den Ankommenden neue Freunde oder billige Arbeitskräfte. Jedenfalls sind Grenzen zu beachten: ‚Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet.‘ (lat.: Ultra posse nemo obligatur.) Geschieht dies nicht, ist niemandem geholfen. Daher gilt es, die Migrationen rechtsstaatlich zu kontrollieren und zu begrenzen und den Ankommenden Lebens- und Zukunftschancen zu eröffnen.

Volker Gerhardt; Lehrstuhl für praktische Philosophie (emeritiert 2012) an der Berliner Humboldt Universität

Was sind die entscheidenden Faktoren dafür, dass wir Empathie mit Flüchtlingen empfinden?

Man ist zur Empathie fähig, wenn:

  • Die oder der andere ein ähnliches Wesen ist.
  • Deren oder dessen Situation muss anschaulich, ‚nah‘ sein.
  • Es sein könnte, dass man selbst ein dieselbe Situation kommt.

Empathie wird kultiviert durch:

  • gezielten Fokus auf Gemeinsamkeiten
  • Die Vorstellung, allein glücklichen Umständen verdanke man es, selbst in einer besseren Situation zu sein
  • Vergleichbare Erfahrungen nahestehender Menschen
  • Eigene vergleichbare Erfahrungen

Für das eigene Handeln braucht es neben der Empathie eine gefühlsbetonte Vision davon, wie viel besser es dem Mitmenschen gehen könnte.

Hilge Landweer; Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin

Von der Schuld zur Pflicht

Hat Deutschland im Rahmen der Flüchtlingskrise eine besondere historisch bedingte Verantwortung?

Die Erinnerung an die NS-Zeit weist auch in die Zukunft. Der Ermordung der Juden und anderer ausgegrenzter Bevölkerungsgruppen ging ein kollektives Aussetzen von Mitgefühl voran, das gespeist wurde von der Etikettierung dieser Menschen als fremd, radikal anders und daher als Bedrohung. Viele Deutsche achten daher aktuell auf das Gemeinsame. Und sie stellen sich die Frage, zu was für einer Nation man gehören möchte: ‚zu einer, die verzweifelte Menschen abweist, oder einer, die mit ihnen die gemeinsame Aufgabe einer neuen Zukunft angeht?‘

Aleida Assmann; Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz

Hat die moralische Verpflichtung, Geflüchtete aufzunehmen, Grenzen oder handelt es sich um eine absolute Pflicht?

Nach streng moralischer Argumentation kann es keine Grenzen geben. Vielmehr müsse man sich bewusst machen, dass in immer mehr Staaten die extreme Gewalt zunimmt (Syrien, Libyen, Irak). Die Zustimmung oder Ablehnung, Menschen aufzunehmen kommt in der Macht über Leben und Tod gleich. Der politische Wille, Geflüchtete zurückzuweisen, kommt der Billigung von Mord gleich. Auch verstößt es gegen die Menschenwürde, das ‚Minimum menschlicher Existenz‘ (Hannah Arendt) nicht zu gewähren. Menschliche Beziehungen seien prinzipiell auf die Pflicht zu Fürsorge, Hilfe und Rücksicht überall und für alle begründte.

Marc Crépon; Direktor des Centre national de la recherche scientifique in Paris

Ist die Flüchtlingskrise eine direkte Folge des globalen Kapitalismus

Ja, denn ein wirtschaftliches Zentrum lebt auf Kosten einer rohstoffliefernden Peripherie. Die conditio sine qua non für das Aufrechterhalten des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist die gewaltsame Aufrechthaltung dieser Ungleichheit. Die Distinguierung in Kriegs-, Wirtschafts-, Klimaflüchtlinge ist irrelevant, weil derzeit alles auf das derzeitige kapitalistische System zurückzuführen ist. Kriegsflüchtlinge sind Opfer einer bellizistischen Wirtschaftspolitik, Wirtschaftsflüchtlinge Opfer einer Durchsetzung geopolitischer Interessen mit ‚nur‘ ökonomischen Mitteln.

Armen Avanessian; Literaturwissenschafter, Philosoph, Gastprofessor an verschiedenen Kunstakademien

Unbedingte Solidarität?

Ist der Schutz der eigenen Bevölkerung vor einem Anschlag ein legitimes Argument, um Flüchtlingsrechte einzuschränken?

Die Frage beinhaltet rechtsstaatlich betrachtet 5 Einzelfragen:

  1. Reicht die statistische Annahme, unter Hunderttausenden Flüchtlingen befinden sich Terrorbereite oder muss sich der Verdacht gegen konkrete Menschen richten?
  2. Darf der Staat allenfalls die Rechte aller Flüchtlinge einschränken oder lediglich der Verdächtigen?
  3. Dürften Einschränkungen sich nur gegen bereits im Inland befindliche Flüchtlinge richten oder könnte eine Begrenzung des Zuzuges erfolgen?
  4. Wie ‚dicht‘ müsste das Risiko sein?
  5. Welche Dimension müsste das schlagend werdende Risiko haben?

Um vernünftige Antworten zu finden, sind 3 Prämissen zu beachten:

  1. Staaten haben das Recht und die Pflicht, die Bevölkerung zu schützen.
  2. Diese Pflicht beinhaltet das Recht, hinreichend verdächtige Personen entsprechenden polizeilichen Maßnahmen der Prävention zu unterwerfen bzw. ihnen den Zutritt ins Land zu verwehren.
  3. Anzunehmen, dass unter Hundertausenden Menschen aus Herkunftsländern des internationalen Terrors kein einziger mit Neigung zu terroristischen Aktionen ist, wäre verantwortungslos.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich folgende Antworten:

Die statistische Annahme eines Anschlages reicht nicht aus, die Rechte aller Flüchtlinge einzuschränken oder Migranten den Zutritt zu verwehren. Dies würde bedeuten, dass die von Einzelnen ausgehende Gefahr, unzähligen anderen zugerechnet wird. Dies gilt selbst dann, wenn das Risiko als statistische Gewissheit bestimmt ist. Der Staat muss allerdings alle Flüchtlinge überprüfen, um seine Pflichten als Garant einer Normenordnung prinzipieller Freiheit zu erfüllen. Bei begründetem konkreten Verdacht darf die Person polizeilichen Maßnahmen unterworfen, gegebenenfalls abgeschoben oder nicht ins Land gelassen werden. Derartige Präventionsmaßnahmen sind angezeigt, wenn ein gravierender terroristischer Akt befürchtet wird, der geeignet ist, die Rolle des Staates als Garant des inneren Friedens zu diskreditieren.

Reinhard Merkel; Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg

Sind Staaten juristisch verplichtet, Flüchtlinge aufzunehmen?

Eine Juristische Pflicht zur Aufnahme besteht nicht, dies würde das Recht der Staaten auf nationale Selbstbestimmung gemäß Artikel 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte verletzen. Staaten haben die Pflicht, jeden Asylantrag angemessen und nachvollziehbar zu bearbeiten und im Falle der Bewilligung von Asyl den Menschen aufzunehmen oder den Transfer in ein sicheres Drittland gewährleisten. In der aktuellen Situation sei auf Kontingente hinzuarbeiten. Jene Staaten, die weniger Flüchtlinge aufzunehmen wünschen, sollten Transferzahlungen leisten.

David Miller; Professor für Social an Political Theory am Nuffield College in Oxford.

Wird der Gesamtnutzen aller Betroffenen dadurch optimiert, dass wir Geflüchtete aufnehmen – oder wäre es hilfreicher, sie vor Ort in den Lagern zu unterstützen?

Genau genommen bevorzugt die Genfer Flüchtlingskonvention jene, die sich die Ausreise ermöglichen können, gegenüber jenen, die sich diese nicht leisten können. Zudem habe die Konvention den Boom des oft skrupellosen und tödlichen Menschenschmuggels begünstigt. Eine praktikable Herangehensweise könnte sein, Flüchtlinge würden in einem dem Herkunftsland benachbarten Staat Asyl beantragen und dort in einem sicheren Camp – dank der Finanzhilfen reicherer Länder – versorgt werden.

Peter Singer; Professor für Bioethik am Center für Human Values der Princeton University.

 

Quellen und links

Philosophie Magazin

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 2 auf 1-sicht

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 3 auf 1-sicht

Über Menschenrechte auf 1-sicht

Europas nationalstaatliche Grenzen. Normalität und Notwendigkeit oder historischer Sonderfall? – Beitrag auf 1-sicht

Krieg in Syrien und kein Ende in Sicht. – Beitrag auf 1-sicht

Syriens Nachbarn und die Flüchtlinge. – Beitrag auf 1-sicht

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Aufnahmelager für Flüchtlinge; Bildquelle Le Monde Diplomatique 8. Oktober 2015
1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand

Über Herausforderungen und Chancen der aktuellen Migrationen – Beitrag 2

Teil 2 aus 3 zum Diskursbeitrag über Migrationen (Dossier ‚Was tun?‘ des Philosophie Magazins vom Februar 2016). 1-sicht-Beitrag 1 befasste sich mit ‚Unsere Verantwortung‘. Nun ist ‚Wer sind wir?‘ das Thema. Es folgt in Teil 3 ‚Wie schaffen wir das?‘

Wer sind wir?

Was wäre deutsch?

Ist eine klar konturierte, selbstbewusst vertretene Landesidentität ein Vorteil oder ein Nachteil für die Integration von Neuankömmlingen?

Zwei Antworten sind aus der Migrationsforschung bekannt:

  1. Festigkeit der Identität des Aufnahmelandes, die durch Forderungen an Neuankömmlinge gesichert wird. Integration wird dabei oft als Assimilation verstanden.
  2. Identitätsbildung ist Aushandlungsprozess zwischen Aufnahmeland und Neuankömmlingen. Der dialogische Zugang erleichtert Integrations, erschwert hingegen die Identitätsbildung.

Eine Kompromissvariante für Deutschland könnte Integration in Form eines dialogischen Aushandlungsprozesses zwischen starken staatlichen Institutionen und Neuankömmlingen sein.

Gunter Gebauer; emeritierter Professor der Freien Universität Berlin

Auf wen bezieht sich das Wort ‚wir‘ in Merkels Satz ‚Wir schaffen das?‘

‚Wir‘, das sind zunächst die Kanzlerin und ihr Kabinett, in der Folge sind alle Behörden, die Regierung und schließlich das Volk, das ja der Souverän ist, gemeint. Wobei sich nicht alle mitgemeint fühlen wollen oder können. Damit die Herausforderung geschafft werden kann, müssen zum ‚wir‘ auch jene Menschen mitgemeint sein, die als Flüchtlinge ankommen. Es gelte, sie nicht nur zu fragen, was sie im Moment benötigen, sondern auch, was sie küntig zum Gemeinwesen beitragen wollen und können.

Tilman Borsche, emeritierter Professor für Philosophie der Universität Hildesheim

Gibt es einen Kern der deutschen Identität?

Man ersetze das Postulat der Identität durch das Prinzip der Identifizierung. Und man begreife die Bedingungen der Gemeinschaftserfahrung als entwicklungsfähige Erzeugnisse. Produktive Teilhabe setzt Sprachen, setzt kommunikatives Handeln voraus. Jedes Erziehungssystem hat den Kernauftrag, die Ausdrucksmittel zu erhalten, weiterzuentwickeln und gegen die Unterwanderung von utilitaristisch vereinfachten Idiomen zu verteidigen.

Heinz Wismann; Philosophiehistoriker und Altphilologe an der EHESS in Paris

Die Anderen und wir

Stellt die Tatsache, dass 80 Prozent der Flüchtlinge (muslimische) Männer sind, aus feministischer Sicht eine besondere Herausforderung dar?

Die Leidenschaft der Araber lässt französischen Charme blass aussehen und reißt Frauen hin. So war es bei Blazac. Nun wird dieses Klischee in seiner negativen Seite vermittelt: Muslime sperren ihre Frauen unter Schleier weg und vergreifen sich an ‚unseren‘ Frauen. Die Sexualität des Orients: vielversprechend einerseits, bedrohlich andererseits. Dieser Diskurs sei Symptom von Kastrationsangst und Ausdruck eines wenig beflügelten Verhältnisses zwischen den Geschlechtern. Frauen sind respektiert, ihnen den Hof zu machen ist nicht mehr üblich. Es sei, als hätte man vergessen, dass die Geschlechter auf der Welt sind, um sich gegenseitig zu Gefallen zu sein. Sollte man auf den Frauenkult der Araber und Syrer hoffen? Und darauf, dass er altdeutsche Ängste bezwingt?

Barbara Vinken; Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München

Ist das Verhalten der Bundesregierung in der Flüchtlingskrise wie auch im Krieg gegen den IS Ausdruck eines neuen Bewusstseins der außenpolitischen Stärke?

Deutschland reagierte einem kollektiven moralischen Impuls folgend, wie es im internationalen Kontext häufig moralischen Argumenten Vorrang vor politisch-pragmatischen Gründen gibt. Dies mag mit dem – vermittelten – historischen Schuldgefühl zu tun haben. Hätte Deutschland politische Stärke gezeigt, hätte es an den Luftangriffen auf Syrien teilnehmen oder für eine pazifistische Lösung optieren müssen.

Hans Ulrich Gumbrecht,; Albert-Guèrard-Professor für Literatur an der Stanford University (USA)

Welche Faktoren lassen die Angst vor dem Fremden in einen Hass gegen den Fremden umschlagen?

Hass liegt nicht in Angst begründet, sondern in Erfahrungen von Degradierung, Ignorierung oder Sabotage an der eigenen Person; in einem verunsicherten, angegriffenen oder erschütterten Selbstwertgefühl. Der Hass richtet sich in der Regel gegen einen konzeptionellen Anderen, nicht gegen einen konkreten Anderen. Der Selbstwert wird durch gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit gestärkt.

Heinz Bude; Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel

Unverzichtbare Werte

Welche Werte sind zentral für die europäische Lebensform?

Die europäische Lebensform basiert auf

  • experimentell-mathematischer Naturwissenschaft und Technik
  • stoischem Kosmopolitismus und Menschenrechten
  • Gewalten teilendem Rechtsstaat mit Meinungs- und Religionsfreiheit
  • freier Kunst, die keinen religiösen oder politischen Zwecken dient
  • einem Bildungssystem, das nach der Entwicklung autonomer Persönlichkeiten strebt

Dies entspricht den Idealen der Aufklärung.

Diesen zuwider laufen

  • religiöse Überzeugungen, die die Wahrheit über die Welt und die Regeln des Zusammenlebens vermeintlich heiligen Texten entnehmen
  • die Idee, geoffenbarte Wahrheiten könnten durch Grausamkeiten verbreitet werden
  • ein Wirtschaftssystem, das Illusionen von Glück und Freiheit propagiert, um des Profits willen Unwahrheiten kommuniziert und Arbeiter grausam behandelt

Im 20. Jahrhundert haben die Menschen

  1. sich kollektiven Illusionen in den großen Ideologien hingegeben und zu deren Verteidigung unglaubliche Grausamkeiten begangen
  2. Unwahrheiten verbreitet und neue Grausamkeiten begangen, um militärische und wirtschaftliche Macht zu erhalten

Seit Sokrates (400 vor unserer Zeitrechnung) existiert die Idee eines aufgeklärten Lebens freier, friedlicher, wahrheitsliebender Menschen. Es sei Zeit, sie zu realisieren.

Michael Hampe; Professor für Philosophie an der ETH Zürich

Brauchen wir für einen erfolgreichen Integrationsprozess eine deutsche Leitkultur?

Zwei Positionen stehen einander gegenüber:
a) Assimilation als Bedingung von Integration
b) Vielfalt der Kulturen als Bereicherung

Der philosophische und politische Liberalismus fordern eine Entkoppelung von Politik und Kultur in Form einer autonomen politischen Sphäre, die allen unabhängig von Herkunft, Religion, kultureller Prägung zugänglich ist. Demokratie als Staats- und Lebensform beruht auf

  • Verfassungsnormen
  • rechtsstaatlicher Praxis
  • verbunden mit demokratischer Kontrolle
  • und einer rechtlichen, politischen, kulturellen Praxis der Nichtdiskriminierung .

Es bedarf einer alltäglichen praktizierten Leitkultur der Humanität, des wechselseitigen Respekts, der Akzeptanz von weltanschaulichen und kulturellen Unterschieden. Angesichts von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Antiislamismus sowie der Radikalisierung in vielen Ländern Europas und in den USA sei es möglicherweise die größte Integrationsleistung, den Antihumanismus eines wachsenden Teils der einheimischen Bevölkerung einzudämmen.

Julian Nida-Rümelin; Professor für politische Theorie und Philosophie an der Ludwig-Maximilian-Universität München

Sollte Gotteslästerung erlaubt sein, auch wenn sie Gläubige verletzt?

In einer Demokratie müsse das Recht zur Kritik über dem Recht, sich nicht beleidigt zu fühlen, stehen, andernfalls würde die Freiheit der Kritik ausgehöhlt. Der demokratische Staat muss einen laizistischen Charakter haben. Dass Gotteslästerung als Straftat gilt, dass es Steuersubventionen für Religionsgemeinschaften gibt und dass religiöse Symbole an öffentlichen Orten benutzt werden dürfen, steht im Konflikt dazu.

Paolo Flores d’Arcais; Professor für Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom

 

Quellen und links

Philosophie Magazin

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 1 auf 1-sicht

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 3 auf 1-sicht

Über Menschenrechte auf 1-sicht

Unsere Werte – Artikel 2 des EU-Bertrages. – Beitrag auf 1-sicht

1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand

Über Herausforderungen und Chancen der aktuellen Migrationen – Beitrag 3

1-sicht-Beitrag 3 von 3 zum Denkanstoß ‚Was tun?‘ des Philosophie Magazins vom Februar 2016. Nach ‚Unsere Verantwortung‘ und ‚Wer sind wir?‘ steht jetzt die Frage ‚Wie schaffen wir das?‘ im Raum. 

Links zu den ersten beiden Beiträgen sowie zu anderen 1-sichten im Kontext Migrationen sind am Ende des Artikels.

Wie schaffen wir das?

Grenzen der Toleranz

Welches sind die wichtigsten Aspekte für gelingende Integration?

Der Mensch ist ein tätiges Wesen. Man lebt durch Tätigsein, was nicht gleichbedeutend ist mit Lohnarbeit. Auch Menschen, die um Asyl in einem Land ansuchen, müssen zum Einen die Möglichkeit, zum Anderen die Pflicht zum Tätigsein haben. Der Beginn ist im Asylheim, wo Aufräum- und Reinigungsarbeiten etc. anstehen. Dies müsse den Menschen vom ersten Tag ihres Lebens im neuen Land klar vermittelt werden. Menschen bis zu 17 Monate nichts tun lassen, sie stillstellen, hindere die Entfaltung der Selbstorganisation und die Integration.

Rupert Neudeck; Philosoph, Begründer des Hilfskomitess Cap Anamur

Gibt es religiöse Eigenheiten, die ein demokratischer Rechtsstaat nicht tolerieren sollte?

Menschenrechte und Grundnormen der Gerechtigkeit markieren die Grenzen der Toleranz. Es reicht nicht, dass Handlungsweisen von einer Mehrheit als falsch bewertet werden oder als gegen die ‚Hausordnung‘ empfunden werden, um diese zu verbieten. Die Grenzen der Toleranz sind erreicht, wenn Grundrechte verletzt werden, z.B. wenn einem kranken Kind Zugang zu lebensrettender Bluttransfusion verwehrt wird, wenn Beschneidungen Mädchen schwerwiegend schädigen, wenn Frauen der Zugang zu Bildung verwehrt wird.

Rainer Forst; Professor für Politische Theorie und Philosophie am Institut für Politikwissenschaft sowie im Institut für Philosophie der Johann Wolfgang von Goethe-Universität

Gibt es eine Verbindung zwischen dem Islamismus und dem Islam und worin liegen die Gründe für den Aufschwung des Fundamentalismus in der muslimischen Welt?

Islamismus verfolgt politische Ziele, ist eine Ideologie. Islam ist ein religiöser Glaube, eine intellektuelle Tradition, ein spirituelles Erbe. Wer zum ‚Krieg gegen den Islam‘ ruft, verfolgt ebenfalls politische Ziele. Islamismus habe keine Kontinuität zum Islam, vielmehr stelle er einen Bruch dar. Wer vom radikalen Islam spricht, unterstellt eine Verbindung von Islam und Extremismus. Doch bei Religionen gehe es um den Glauben, um das Menschlich-Werden, das Begreifen der gemeinsamen Menschlichkeit. Sich um angemessene und zutreffende Benennungen zu sorgen, hat zum Ziel, den Kräften der Negation die Affirmation der Menschlichkeit entgegenzusetzen.

Souleymane Bachir Diagne; Professor an der Columbia Universität, New York

Gefahren als Chancen

Wie ist der Sorge der jüdischen Gemeinden zu begegnen, die Ankunft der meist muslimischen Flüchtlinge werde den Antisemitismus hierzulande verschärfen?

Arabische Diktaturen setzen auf die Außenfeinde Staat Israel und Juden. Zugleich gilt vielen oppositionellen Israelis die Bezeichnung ‚Faschist‘ als angemessen für manche Regierungsmitglieder. Verhärtete Fronten ohne Aussicht auf Lösung. Im 3. Buch der Thora heißt es: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.“ Dieses Gebot ist Grundlage für den Einsatz vieler Juden, Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak in jüdischen Gemeinden aufzunehmen. Eine Willkommenskultur könnte den Kreislauf von Furcht und Hass zwischen der jüdischen und der muslimischen Welt durchbrechen. Zumal jene, deren Vorfahren selbst Vertriebene waren, eine besondere Sensibilität für das Leid von vor Krieg und Fanatismus fliehenden Menschen haben sollten. Deutschlands Verantwortung im Kampf gegen den Antisemitismus müsse den jetzt Geflüchteten erkennbar gemacht und der Einsatz für eine Lösung des Nahostkonfliktes seitens Deutschland verstärkt werden.

Susan Neimann; Direktorin des Einstein Forums in Potsdam

Wie lässt sich Neid auf Flüchtlinge vermeiden?

Wer unter prekären Beschäftigungsverhältnissen leben muss, fühlt sich zu Recht vernachlässigt. Neben den wirklichen Benachteiligungen kommen die eingebildeten zum Tragen. Ein Großteil der ansässigen Bevölkerung hat etwas verloren, was die Neuankommenden mitbringen: Die Hoffnung, dass es ihnen und dereinst ihren Kindern besser gehen wird. Die Hoffnungslosen haben das Gefühl, ihr Verlust an Hoffnung wäre die Schuld der Hoffnungsvollen. Es brauche also für alle positive Perspektiven, neben humanitären Appellen einen Plan für die Gesamtbevölkerung und eine ‚große Erzählung‘, in der alle ihre Möglichkeiten finden, sodass das vermeintliche Glück des anderen als eigener Vorteil und etwas Teilbares erfahren werden kann.

Robert Pfaller; Professor für Philosophie an der Kunstuniversität Linz

Wie bekämpft man religiösen Fanatismus innerhalb der eigenen Landesgrenzen?

Etwas, was unvorstellbar schien, ist geschehen: der religiöse Fanatismus ist in Deutschland angekommen. Muslime wie Nicht-Muslime hätten durch Ausgrenzungsdebatten gegen ‚den Islam‘ dazu beigetragen. Muslime, die ein zeitgemäßes Islamverständnis etablieren wollen, mögen sich gesellschaftlich und theologisch stärker engagieren. Insgesamt brauche es eine Steigerung der Demokratiefähigkeit und eine aufgeklärte, zur Differenzierung fähige Gesellschaft.

Lamya Kaddor; muslimische Religionspädagogin, Islamwissenschaftlerin, Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes

Deutschland, Zukunftsland?

Welches sind die Erfolgsindikatoren, die uns in 20 Jahren sagen lassen können: „Ja, wir haben das geschafft“?

Man wird nicht merken, ob die Integration erfolgreich gewesen sein wird. Denn wenn Einwanderung erfolgreich funktioniert, spielen Herkunft und Migrationsgeschichte keine Rolle, sind sie kein Thema. Genauso wenig wie die Aufhebung des Demografieproblems durch die Zuwanderung überwiegend junger Menschen. Es wäre nunmehr an der Zeit, Gesellschaften und ihre Entwicklungen als nicht-linear zu begreifen und Gestaltwandel und unerwartete Geschehen nicht als ‚Krise‘ zu deuten. Dies würde Demokratien widerstandsfähiger machen.

Harald Welzer; Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg

Worin liegt die größte Chance der derzeitigen Zuwanderung und wie wäre sie zu nutzen?

Die größte Chance liege darin, dass Europa ehrlich würde und eingesteht, jahrzehntelang auf Kosten derer gelebt zu haben, die nun wandern. Es wurden Konflikte verschleppt bzw. durch Waffenlieferungen zum Eskalieren gebracht (Afrika, Mittlerer Osten, Balkan). Man hat sich mit Diktatoren arrangiert und die Erderwärmung geschehen lassen. Die Weltgesellschaft jedoch ist keine Einbahnstraße, Staatsgrenzen halten weder Touristen noch Geschäftsleute noch die Verlierer auf. Masseneinwanderung in die EU sei nun Realität, das Leben auf der ‚ethnisch und (a)religiös homogenen Wohlstandsinsel‘ vorbei. Europa habe die Chance, aus seiner Müdigkeit und Zerrissenheit heraus zu treten.

Claus Leggewie; Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen

Lässt sich die Empathiewelle der ersten Monate über Jahre stabilisieren, oder muss sie notwendig ermüden?

Bei Langzeitsituationen neigt der Mensch zur Empathiknausrigkeit. Er hilft in spontaner Not und möchte den schnellen Erfolg sehen. In Abgrenzung zur empathisch motivierten Handlung ist die Hilfeleistung zu sehen, die aus der Identifikation mit Helfervorbildern rührt. Diese Identifikation mit moralischen Helden erlahmt rascher als Empathie. Es sei aktuell die Chance, echte Empathie aufzubauen, wofür beispielsweise die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg zu erschöpft waren.

Fritz Breithaupt; Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft und affilierter Professor für Kognitionswissenschaften an der Indiana University in Bloomington (USA)

Quellen und links

Philosophie Magazin

Über Menschenrechte auf 1-sicht

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 1 auf 1-sicht

Über Chancen und Risiken der aktuellen Migrationen – Beitrag 2 auf 1-sicht

Was zeichnet eine offene Gesellschaft aus? – Beitrag auf 1-sicht

Achtet auf die Worte. Vom Flüchtlingsstrom und anderem Metaphern mit fragwürdigem Unterton – Beitrag auf 1-sicht

Über Zaatari in Jordanien: Flüchtlingslager? Flüchtlingsstadt? – Reportage ‚Neuland‘ auf NZZ.at

1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand

Internationale Waffentransfers – Trends

Der aktuelle Bericht von SIPRI, dem Stockholm International Peace Research Institute, über internationale Waffentransfers fasst für die Periode 2011-2015 im Vergleich zu 2006-2010 zusammen:

Das Transfervolumen war um 14 % größer als in der Periode 2006-2010.

Internationale Waffentransfers – Exporte

58 Staaten identifizierte SIPRI als Waffenexporteure.

Die 5 größten waren: USA, Russland, China, Frankreich und Deutschland. Zusammen sind ihnen 74 % des Gesamtvolumens der Waffentransfers zuzuschreiben; Russland und USA exportierten zusammen 58 %.

Im Vergleich zur Periode 2006-2010 waren die Waffenexporte von USA um 27 %, von Russland um 28 % und von China um 88 % angestiegen. Frankreichs Waffenexporte sanken um 9.8 %, Deutschlands um 51 %.

Waffentransfers - Export
Internationale Waffentransfers – Hauptexporteure und Hauptabnehmer; Grafikquelle: SIPRI

Internationale Waffentransfers – Importe

153 Staaten importierten im Zeitraum 2011-2015 Waffen. SIPRI identifizierte zudem 8 Rebellengruppen als Waffenempfänger.

Die 5 größten Importeure waren Indien, Saudi Arabien, China, die Vereinigten Arabischen Emirate und Australien. Ihnen sind 34 % des Volumens zuzuschreiben. Die Importe von Indien und Saudi Arabien stiegen deutlich an. Den Rebellengruppen werden jeweils nicht mehr als 0,02 % der Lieferungen zugeschrieben.

Waffentransfers_Importe
Internationale Waffentransfers – Hauptimporteure und Hauptlieferanten; Grafikquelle: SIPRI

SIPRI misst das Volumen der Waffentransfers – basierend auf Daten und Schätzungen – am Produktionswert, nicht am Handelswert. Es geht um den militärischen Wert, nicht um den Geldwert der Transfers. Ermittelt wird der TIV (trend-indicator value), der einen Vergleich und das Abschätzen von Trends über Jahre und Jahrzehnte ermöglichen soll. Gebrauchte Waffen werden mit Abschlägen kalkuliert. Einberechnet werden neben dem Wert von physischen Ein-/Verkäufen der Transfer von Technologie und die Übertragung von Lizenzen, die den Empfängern die Produktion und den Zusammenbau von Waffen erlauben. Nicht einberechnet hingegen werden Waffen für zB Personenschutz sowie der Transfer gestohlener Waffen.

SIPRI, gegründet 1966, verfügt nach eigenen Angaben über Daten  seit 1950.

Für das Jahr 2013 nennt SIPRI 76 Milliarden Dollar als Volumen der internationalen Waffentransfers – nicht ohne hinzuzufügen, dass in einer Branche, in der Verschwiegenheit eher an der Tagesordnung ist als Transparenz, von einem höheren Volumen auszugehen ist.

Quellen und links

SIPRI

SIPRI books: TRENDS IN INTERNATIONAL ARMS TRANSFERS, 2015

1-sicht findet: Lesen bildet.
1-sicht meint: Lesen nährt den Verstand

Europas nationalstaatliche Grenzen – Normalität und Notwendigkeit oder historischer Sonderfall?

Die nach dem 2. Weltkrieg geborenen und aufgewachsenen Menschen kennen Europa nicht anders, als mit innerstaatlichen Grenzen, ja sogar eisernen Vorhängen und Mauern. Als Letztere fielen, wurde gejubelt. Als die ‚Schengener Abkommen‘ 1985 und 1990 unterzeichnet wurden, erlangte man freien Personenverkehr und Abbau der Grenzkontrollen, was den meisten BürgerInnen wohl insbesondere auf Urlaubsreisen positiv auffällt, aber nicht von besonderer Alltagsbedeutung ist.

Die Schengener Abkommen stehen für:

  • die Abschaffung von Personenkontrollen an den Grenzen zwischen den Ländern des Schengenraumes
  • gemeinsame Regeln für die Kontrollen an den Außengrenzen
  • eine gemeinsame Visa-Politik
  • eine verstärkte Zusammenarbeit von Polizei und Justiz, die den Wegfall der Grenzkontrollen erst möglich machte.

Eine Schutzklausel erlaubt allen Schengen-Ländern, im Falle einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit die Kontrollen vorübergehend wieder einzuführen.
(Quelle: Zukunft Europa/Bundeskanzleramt)

Diese Schutzklausel dürfte aktuell Hochkonjunktur haben. Die aus Kriegsgebieten flüchtenden Menschen werden, so scheint es, als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit wahrgenommen. Die (vorübergehende) Aufhebung der Schengenabkommen ist in Diskussion.

Europa ohne Grenzen

Für uns Nachkriegsgenerationen, die wir mit Grenzen und Grenzkontrollen aufgewachsen sind, für die der erste eigene Pass ein Schritt ins Erwachsenenleben bedeutete, ist ein dank Schengen in weiten Teilen ‚grenzenloses Europa‘ die angenehme Ausnahme, nicht die anzustrebende Normalität. Darauf weisen Ulrike Guèrot und Robert Menasse in dem Artikel ‚Lust auf eine gemeinsame Welt‘ in Le Monde diplomatique vom Februar 2016 hin. Sie halten dem derzeit deutlich vernehmbaren Ruf nach Einführung von innereuropäischen Grenzkontrollen und Grenzbefestigungen inklusive Schießbefehlen das grenzenlose Europa vor den beiden Weltkriegen als Denk- und Diskussionsmodell, als Vision entgegen. Sie erinnern daran, dass das System der politischen Grenzen die historische Ausnahme ist. Unter Berufung auf Stefan Zweig schreiben sie, dass man vor 1914 kein Visum brauchte, „um mit der Droschke von Paris nach Moskau zu reisen und in Berlin die Pferde zu wechseln“. Die 4 Freiheiten der Europäischen Union (Personenfreizügigkeit, Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen und Kapital) sind zwar die größte Errungenschaft nach den Kriegen, stellen aber kein Novum in der europäischen Geschichte dar sondern, so Guèrot und Menasse, die Wiederherstellung historischer Normalität. Sie fordern „globales Nomadentum nicht nur für Konzerne“ und vermissen im europäischen Diskurs die Ambition, Europa wieder zu europäisieren, sprich, die Nationalstaaten zu überwinden.

Wie alt sind unsere Pässe?

Das Passwesen selbst ist noch keine hundert Jahre alt. 1920 definierte der Völkerbund im Rahmen einer Konferenz in Paris am 21. Oktober Richtlinien für Pässe.

Ab 1922 wurden sogenannte Nansen-Pässe vergeben, benannt nach dem damaligen ‚Hohen Kommissar des Völkerbundes im Zusammenhang mit dem Problem betreffend die russischen Flüchtlinge‘, dem norwegischen Polarforscher Fritjof Nansen. Diese Pässe gewährten den russischen Flüchtlingen legale Migration. (Quelle: Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jh, herausgegeben von Jochen Oltmer, google-book)

1919, nachdem die globalisierte Welt kollabiert war, soll John Maynard Keynes im Rückblick auf die Vorkriegszeit wehmütig gesagt haben:

Wer es wünschte, konnte billig und komfortabel in jedes Land oder jede Klimazone reisen, ohne Pass oder andere Formalitäten. Und er wäre sehr gekränkt und sehr überrascht gewesen, wenn es nur die kleinste Störung gegeben hätte.” (Quelle: Wall Street Journal)

Europäische Union
Europa: die Grenzen des Schengenraums

‚Schengenraum‘ (Grafikquelle: www.zukunfteuropa.at)

Legende

  • Blau: Staaten der Europäischen Union im Schengenraum
  • Khaki: Staaten im Schengenraum, die keine Mitglieder der Europäischen Union sind
  • Altrosa: Staaten der Europäischen Union, die noch nicht im Schengenraum sind.

Quellen und links

LE MONDE diplomatique / Februar 2016

Passport

Zukunft Europa

Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jh, herausgegeben von Jochen Oltmer

Wall Street Journal WSJ

Die Lesenden

Krieg in Syrien und kein Ende in Sicht. Krieg in Libyen und der Zusammenfall des Staates in Sicht.

Während die EU in der ‚Flüchtlingskrise‘ scheinbar unterzugehen droht, zerstört das Kriegsgeschehen in Syrien und Libyen das Leben Tausender und die Lebensgrundlage Abertausender.

Syrien – warum ist Frieden nicht möglich?

Das Magazin Time ortet 4 wesentliche Hindernisse auf dem Weg zu einem Frieden in Syrien (Time, 15. Februar 2016, Jared Malsin):

  • Zersplitterte Opposition: Syrische Rebellen- und Oppositionsgruppen formierten im Dezember ein ‚High Negotiations Committe‘. Doch anhaltende Spannungen zwischen islamistischen und zivilen Gruppen machen ein gemeinsames Auftreten unmöglich. Zudem monieren kurdische Gruppen, die einen erheblichen Teil des Landes kontrollieren, nicht zur Beiteiligung eingeladen worden zu sein.
  • Die ‚Assad-Frage‘: Es herrscht Uneinigkeit betreffend das Schicksal von Präsident Bashar Assad. USA hat sich von der Forderung nach Regimewechsel distanziert, die Oppositionsgruppen fordern den Rückzug Assads.
  • Die Stärke des Regimes: Der syrische Präsident ist aktuell in einer stärkeren Position – und daher weniger kompromissbereit – als vor 6 Monaten, dank der Unterstützung Russlands, dem Eintritt iranischer Truppen und shiitischer Kämpfer vom Irak und aus Afghanistan.
  • Erneute Gewalt: Luftangriffe auf Aleppo seitens Russland und des syrischen Regimes erreichten Anfang Februar einen neuerlichen Höhepunkt. Menschenrechtsgruppen sprechen von schätzungweise 270 Angriffen in 3 Tagen. Oppositionsgruppen halten Verhandlungen für zwecklos, solange die Attacken nicht eingestellt werden.

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Syrien, Bildquelle: Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de

Libyen – Bürgerkrieg statt Systemwechsel

2011 verhelfen NATO und einige asiatische Staaten bewaffneten Milizen zum Sieg über Muammar al Gaddafi, dem langjährigen und vom ‚Westen‘ durchaus geschätzten bis hofierten Diktator, der am 20. Oktober auf der Flucht erschossen wird.

Systemwechsel wird keiner daraus. Stattdessen: permanenter Bürgerkrieg. Derzeit herrschen 2 Regierungen, 2 Parlamente in 2 ‚Hauptstädten‘ (Tobrinki im Osten, tendenziell säkular; Tripolis im Westen, tendenziell islamistisch) und weit über 1000 Milizen. Der selbst ernannte ‚Islamische Staat‘ IS gewinnt an Stärke und verdient am Menschenschmuggel. Die Wirtschaft ist weitgehend zusammengebrochen. Noch lebt das Land vom einstigen Reichtum, den es dem weltweit begehrten Rohstoff Erdöl verdankt. Doch IS und andere Milizen schrecken nicht davor zurück, die Anlagen und damit die industriellen Lebensadern zu zerstören.

Ein Wunder, dass es nach wie vor funktionierende Bereiche öffentlichen Lebens gibt. Bürokratie und Teile der Exekutive arbeiten noch, da die 3 zentralen staatlichen Institutionen sich für neutral erklärt haben: das staatliche Erdölunternehmen, der libysche Staatsfonds und die libysche Zentralbank. Letztere zahlt Sold an Lehrer, Professoren, Richter, Polizei, Angestellte der Küstenwache. Und auch an Kampfbrigaden. Was irrsinnig klingt, wirkt segensreich. Andernfalls wären Plünderungen, Überfälle etc. noch häufiger als ohnehin. Pessimistische Prognosen gehen jedoch davon aus, dass der Staat im April bankrott ist. (Deutschlandfunk, 11.2.2016, Bettina Rühl)

Man mag sich nicht vorstellen, was das für die Region, das Land und die Menschen bedeutet. Die EU kurbelt derweilen die Zaunkonjunktur an und verrät ihre Werte.

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Libyen, Bildquelle: Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de

Quellen und links

TIME, 15. Februar 2015

Deutschlandfunk – 11.2.2016

Der Standard – 3.2.2016

Werte der Europäischen Union

Bundeszentrale für politische Bildung

Über Syrien auf 1-sicht

Syriens Nachbarn und die Flüchtlinge

Ein musikalischer Beitrag zum Zaunbau

Zäune bauen – Uta Köbernick

 

 

Die Lesenden

People don’t you understand, the child needs a helping hand …

or he’ll grow to be an angry young man some day.

Ob Ghetto, Banlieue, Flüchtlingslager – Elvis Presley hat im Song ‚In the Ghetto‘ den Teufelskreis aus Chancenlosigkeit von Geburt und Gewaltbereitschaft aufgrund von Aussichtslosigkeit traurigschön besungen und vor dem Wegsehen gewarnt:

In the Ghetto

As the snow flies.
On a cold and gray Chicago mornin‘
a poor little baby child is born
in the ghetto.

And his mama cries
‚cause if there’s one thing that she don’t need
it’s another hungry mouth to feed
in the ghetto.

People, don’t you understand
the child needs a helping hand
or he’ll grow to be an angry young man some day.

Take a look at you and me,
are we too blind to see,
do we simply turn our heads
and look the other way.

Well the world turns
and a hungry little boy with a runny nose
plays in the street as the cold wind blows
in the ghetto.

And his hunger burns.
So he starts to roam the streets at night
and he learns how to steal
and he learns how to fight
in the ghetto.

Then one night in desperation
a young man breaks away.
He buys a gun, steals a car,
tries to run, but he don’t get far.
And his mama cries.

As a crowd gathers round an angry young man
face down on the street with a gun in his hand
in the ghetto.

As her young man dies,
on a cold and gray Chicago mornin‘,
and another little baby child is born
in the ghetto.
And his mama cries.

Elvis Presley – Gitarre und Stimme

Quellen und links

In the Ghetto – music – youtube

In the Ghetto -Text

In the Ghetto -wikipedia

Elvis Presley – wikipedia

Songs auf 1-sicht

John Lennons Traum

Die Lesenden

 

Ist die Obergrenze eine Obergrenze oder ein Richtwert? Eine aktuelle österreichische Spitzfindigkeit.

Österreichs Regierungsvertreter aus Staat und Ländern haben befunden: Mehr als 37.500 Menschen können in Österreich nicht um Asyl ansuchen dürfen und dürfen bei uns nicht um Asyl ansuchen können. Die Zahl 37.500 wird wahlweise als Obergrenze (eher zu hören von ÖVP-Seite) oder Richtwert (eher zu hören von SPÖ-Seite) bezeichnet. Es wird – auf Nachfrage gründlich arbeitender Medienleute – fallweise zugegeben, dass die Kompatibilität mit internationalem Recht (z. B. der Genfer Flüchtlingskonvention, die Österreich 1954 ratifiziert hat) noch zweifelhaft (ExpertInnen seien gerade dabei, dies zu prüfen) oder jedenfalls und selbstredend zu gewährleisten sei. Es kann die Frage, was mit dem Menschen 37.501, der frierend, hungernd, erschöpft an unseren Zaun (vulgo Tür mit Seitenteilen, copyright Bundeskanzler Werner Faymann ) klopft, geschieht, nicht immer schlüssig beantwortet werden.

Zur aktuellen Obergrenze-Richtwert-Debatte in der Alpenrepublik bringt 1-sicht die Zusammenfassung eines Kommentars von Karla Engelhard im Deutschlandfunk am 20.1.. Karla Engelhard hält die Festlegung einer Obergrenze für eine populistische Scheinlösung, die zudem die Stabilität der Balkanländer aufs Spiel setzt.

Der Kommentar zusammengefasst:

Bumerang statt Dominoeffekt

Kanzler Werner Faymann spricht ‚wienerisch unkonkret‘ von Richtwert, Notlösung, Plan B, um – wie Engelhard annimmt – seine deutsche Amtskollegin Kanzlerin Angelika Merkel nicht vor Augen zu führen, dass sie einen ihrer letzten Getreuen in der EU verloren hat. Vizekanzler Reinhold Mitterlehner nennt die Obergrenze beim Namen. Das System, das Mitterlehner durch die Flüchtlinge überfordert sieht, könne, so Engelhard, nur die große Koalition aus SPÖ und ÖVP sein. Denn die Österreicherinnen und Österreicher sind noch nicht an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gekommen.

Engelhard erinnert an die Leistungen der Alpenrepublik im Jahr 1956, als russische Panzer in Ungarn einfuhren, Österreich noch kaum Strukturen und schon gar kein System hatte und es schaffte, 200.000 Menschen innerhalb weniger Woche aufzunehmen, von denen rund 70.000 geblieben sind. Heute zählt Österreich zu den reichsten und organisiertesten Staaten der Welt, da sollen 90.000 Menschen in einem Jahr ein Problem darstellen?

Es sei, so die Kommentatorin, keine Frage des Könnens sondern eine des Wollens. Denn seit Monaten helfen Freiwillige und verantwortungsbewusste Entscheidungsträger in den Kommunen – dem ‚Überforderungsmantra der Regierenden‘ zum Trotz. Diesen fehle es an Ehrlichkeit und Mut zuzugeben, dass es schnelle Lösungen nicht gibt. Die Festlegung von Obergrenzen und Fristen hält Engelhard für beschämende Politik auf dem Rücken der Schutzsuchenden. Aus dem von Österreich angestrebten Dominoeffekt werde ein Bumerang werden, denn die Zurückweisung von Schutzsuchenden an Österreichs Grenzen gefährde die Stabilität der Balkanländer. Dies sei gefährlich. Eine europäische Lösung ist ohne Alternative.

Wenn schon Obergrenzen, dann bitte sinnvolle

Auf nzz.at schreibt ein Redakteursteam seinen Obergrenzenwunschbrief in das weltweite Netz.

Für folgende 10 Dinge werden Obergrenzen eingefordert – eine Zusammenfassung:

    1. Ausgaben für Inserate aus öffentlicher Hand

Zeitungsinserate der öffentlichen Hand, so das nzz.at-Team, kennen in Österreich keine Grenzen. Dies belaste nicht nur die Budgets, sondern auch die Meinungsvielfalt in der österreichischen Medienlandschaft

2. Öffentliche Gebühren

Seit 2008, schreibt das nzz.at-Team unter Berufung auf Eurostat, seien die ‚administrativen Preise‘ um 20 Prozent gestiegen, stärker als in der Eurozone und stärker als die Konsumpreise.

3. OTS-Aussendungen aus Generalsekretariaten

Politische Parteien zahlen  viel Geld an die APA, um das verbreiten zu lassen, was sie sagen wollen – Gegenmeinung ausgeschlossen.

4. Verwaltungsebenen: 2

Zwar hat auch der Freistaat Bayern eine Vertretung in Brüssel und so, sagen die einen, ist es logisch, dass die ‚equivalente‘ Verwaltungseinheit in Österreich ebenfalls ein Büro in Brüssel hat. Nur, die Volkswirtschaft des Freistaats Bayern ist größer als jene von ganz Österreich.

5. Obdachlose

Die letzten offiziellen Zahlen sind aus 2006. Rund 37.000 Menschen waren damals im Rahmen der Wohnungslosenhilfe betreut. Dass nzz.at-Team geht davon aus, dass die Zahl innerhalb der letzten 10 Jahre angestiegen ist und plädiert unter anderem für aktuelle Erhebung, Festsetzung einer Obergrenze und Prävention.

6. Arbeitslose

Mit 10,6 Prozent hat Österreich derzeit die höchste Arbeitslosenquote der Zweiten Republik (475.435 waren im Dezember ohne Job). AMS-Chef Johannes Kopf proklamiert regelmäßig, was zu tun wäre: Mehr Geld für Bildung.

7. Haftungen

Haftungen seien ein mephistophelischer Pakt: Heute verursachen sie keine Kosten, irgendwann rächen sie sich. Länder bürgen mit Milliarden für ihre heimischen Banken (Hypo Alpe Adria), die Last tragen die SteuerzahlerInnen.

8. Prekäre Arbeitsverhältnisse

Viele – oft hochqualifizierte – Menschen hangeln sich von Praktikum zu Praktikum oder leben ihr Berufsleben als freie Dienstnehmer oder sogenannte Neue Selbstständige mit kaum rechtlicher Absicherung und ohne Anspruch auf Krankenstand und bezahlten Urlaub.

9. Exportlizenzen für Waffen in Krisengebiete

Österreichische Maschinengewehre oder Granaten sollten schon jetzt nicht in krisengebeutelten Regionen oder bei diktatorischen Regimes landen. Tun sie aber doch. Beamte aus 4 Ministerien sind zuständig für die Exportlizenzen, die Minister sollten eingreifen und dafür sorgen, dass die Obergrenzen für Waffenlieferungen in Krisengebiete bei null liegen.

10. Innenpolitische Nazivergleiche

Weder will man etwas zur angeblich ‚ordentlichen Beschäftigungspolitik‘ der Nazis ((Jörg Haider, damals Landeshauptmann in Kärnten) hören, noch die Bezeichnung der Antifa-Demonstranten als ‚Stiefeltruppen der SA‘ (Heinz-Christian Strache, FPÖ-Obmann). Gewünschte Obergrenze: Ein Nazivergleich pro Millenium.

Weitere Obergrenze gesucht?

Den Obergrenzenwünschen könnten 1-sichtigerweise noch einige hinzu gefügt werden. Wie wäre es mit einer Obergrenze für die Straßen der Stadt verstopfende Autos? Für Schneekanonen, die den Tourismusverantwortlichen scheinbar zu viele Schneekristalle in die Augen streuen, sodass diese keine Alternativen zum Schitourismus sehen?

Quellen und links

Den vollständigen Kommentar hören
Deutschlandfunk – Kommentar Karla Engelhard 20.1.2016

Genfer Flüchtlingskonvention

Genfer Flüchtlingskonvention – Unterzeichnerstaaten

Kanzler Faymanns Tür mit Seitenteilen – ORF

Zur Obergrenzenwunschliste von nzz.at (nzz.at-Abo erforderlich!)

Die Lesenden

Menschenrechte – Artikel 3: Leben, Freiheit, Sicherheit

Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.

Warum Menschenrechte? – Aus der Präambel zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Auszug)

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal wurde von der Generalversammlung der UNO am 10. Dezember 1948 verkündet, unter anderem

  • da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet,
  • da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, daß einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt.

Quellen und links

Amnesty International

United for human rights

Über Menschenrechte auf 1-sicht

Über Menschenrechte auf 1-sicht

 

Die Lesenden

Die größten geopolitischen Risiken in 2016

Die Eurasia Group, nach eigenen Angaben das führende Forschungs- und Beratungsunternehmen für politische Risiken, veröffentlichte Anfang Jänner den Bericht ‚Top Risks 2016‘. Die wenig hoffnungsvolle Zusammenfassung geht von einer deutlich fragmentierteren Welt und einer Zunahme an Konflikten aus, sowohl innerhalb als auch zwischen Staaten und zudem zwischen Staaten und nicht-staatlichen Einheiten.

Top 10 Risiken aus Sicht der Eurasia Group

  1. Die transatlantische Partnerschaft ist bedeutungslos geworden.  Die Wege von USA und Europa gehen auseinander, was insbesondere bei den fortgesetzten Interventionen Russlands in der Ukraine und dem Konflikt in Syrien sichtbar wird. Globalen Konflikten, speziell im Mittleren Osten,  wird auf internationaler Ebene nicht Einhalt geboten.
  2. Europa verschließt sich. Ein zentraler Konflikt zwischen ‚offenem Europa‘ und ‚geschlossenem Europa‘ ist zu erwarten. In der Kombination mit Ungleichheit, Flüchtlingen, Terrorismus und Volksbewegungen bedeutet dieser eine Herausforderung für die Gründungsprinzipien der EU.  Zwar wird der wirtschaftliche Zusammenhalt der EU weiterhin stark sein, ihr darüber hinaus reichender Sinn und das soziale Gefüge jedoch nicht.
  3. China hinterlässt einen unermesslichen Fußabdruck. Es wird 2016 der zugleich wichtigste und unsicherste Treiber von globalen Auswirkungen sein und die anderen internationalen Akteure irritieren, die Chinas Prioritäten nicht verstehen oder nicht damit einverstanden sind.
  4. Der Islamische Staat (IS, vormals ISIS = Islamischer Staat im Irak und in Syrien) ist die machtvollste Terrororganisation mit AnhängerInnen und Nachahmern in vielen Regionen. Die internationalen Reaktionen auf den Aufstieg von IS waren bislang inadäquat und fehlgeleitet. Das Problem wird sich 2016 nicht lösen lassen.
  5. Das Königreich Saudi Arabien ist von wachsender Instabilität betroffen. Seine zunehmende politische Isolation wird dazu führen, dass es noch aggressiver agiert als jüngst im Jänner 2016. Die Konflikte zwischen den regionalen Erzfeinden Saudi Arabien und Iran werden zunehmen, eine Intensivierung der Stellvertreterkriege in Syrien, Yemen und anderswo muss erwartet werden.
  6. Der Einfluss der Technologen als nicht-staatliche Akteure auf die Politik wird zunehmen. Ihnen ist eine große Durchsetzungsfähigkeit zu eigen und sie werden Regierungen und BürgerInnen zurück drängen. Das wird politische und wirtschaftliche Instabilitäten nach sich ziehen.
  7. Unberechenbare politische Führungspersönlichkeiten werden internationale Politik zu einem ausgesprochen unbeständigen Feld machen. Ausdrücklich genannt sind Russlands Vladimir Putin, Türkeis Recep Tayyip Erdogan, Saudi Arabiens Mohammed bin Salman und – in geringerem aber doch wichtigem Ausmaß – Ukraines Petro Poroschenko.
  8. Brasiliens politische und ökonomische Krise verschlimmert sich. Selbst wenn Präsidentin Dilma Rousseff im Amt bleibt, wird ihre Regierung nicht ausreichend politische Kraft aufbringen, um die notwendigen ökonomischen Reformen umzusetzen. Wird Rousseff abgesetzt, wäre eine Regierung unter Vizepräsident Michel Temer wenig besser.
  9. Wenige Wahlen in Schwellenländern und damit wenig Möglichkeiten für WählerInnen in Schwellenländern, sich Gehör zu verschaffen. Zwar galten in der Vergangenheit Wahljahre als eher instabil im Vergleich zu Jahren, in denen nicht gewählt wurde, für 2016 wird das Gegenteil angenommen. Hohe Erwartungen seitens der Bevölkerungen bei verlangsamtem Wachstum und stagnierenden Lebensstandards erhöhen die Unzufriedenheit und werden das Regieren erschweren.
  10. In der Türkei treibt Präsident Erdogan die Ablöse des parlamentarischen Systems durch ein Präsidialsystem voran. Es ist absehbar, dass dies nicht in 2016 erreicht werden wird, doch die  Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und das Investitionsklima werden geschädigt. Zudem gibt es wenig Aussicht auf ein Ende der PKK Gewalt und der unablässige Druck seitens der USA auf die Türkei, gegen den IS rigoros durchzugreifen, wird bloß mäßige Erfolge haben, die Türkei jedoch erneut zum Angriffsziel der IS machen.

Links und Quellen

Top Risks 2016 (der Bericht als pdf)

Eurasia Group

IS – wikipedia

Die Lesenden